Undine: Vom Wassergeist zum Weibe

Undine in tosendem Wasser, gezeichnet von Arthur Rackham

Undines Hochzeit und ihr Leben am Hof: Die Wandlung zur tugendhaften Ehefrau

Die Vermählung Undines ist Wendepunkt der Geschichte, denn mit ihr vollzieht sie den Wandel von einer launischen Kindfrau zur tugendhaften Ehefrau. Hierbei muss betont werden, dass Undine dem Ritter Huldbrand von jeher wohlgesonnen war. Dennoch handelt Undine nicht im echten Sinne moralisch, sondern rein aus personenbezogener Liebe: Ihrem Huldbrand will sie alles Beste, aber der Rest der Welt ist ihr oft herzlich egal.

Dies wird in einer Szene deutlich, in der ihre Zieheltern und Huldbrand am nahegelegenen Ufer ein Weinfass finden. Zunächst freuen sich alle über den Fund, aber der Fischer gibt zu bedenken, dass sie an diesem Abend wahrscheinlich nur deswegen köstlichen Wein genießen können, weil jemand anderes verunglückt ist und seine Waren verloren hat. Ritter Huldbrand beteuert daraufhin, dass er die Verunglückten bald suchen und ihnen den Wein aufs Dreifache ersetzen werde. Undine ist von dieser Idee ihres Geliebten alles andere als begeistert und ringt ihm das Geständnis ab, dass er sicher lieber bei ihr bleiben würde als ein paar Vermisste zu suchen. Auf die bejahende Antwort des Ritters reagiert Undine folgendermaßen:

„Nun“, sagte Undine, „also hast Du dumm gesprochen. Denn jeder ist sich selbst der Nächste; und was gehen einen die anderen Leute an?“1Friedrich de la Motte Fouqué: Undine in: „Friedrich de la Motte Fouqué: Rittergeschichten und Gespenstersagen. S. 29.

Als ihr Ziehvater sie für diese egoistische Antwort zurechtweist, ist sie abermals nur an den Gefühlen ihres Schwarms interessiert und fragt ausschließlich Huldbrand: Bist du auch böse, schöner Freund?2Ebd.

Christliches Kreuz aus Wasser als Symbol für Undines Gottesfurcht
Auch die unbeseelte Undine hat bereits ein Verständnis von Gott und Gut und Böse.

Undine ist in den Ritter verliebt. Doch sie kennt nur exklusive leidenschaftliche Liebe. Eine generelle von Güte geprägte Menschenliebe ist der Wasserfrau weitestgehend fremd. Wie das Beispiel mit den erjagten Tieren zeigt, kann Undine aber durchaus Mitleid empfinden.

Sie hat bereits ein Verständnis für gut und böse, doch ihrer Herkunft als Wassergeist entsprechend wogen ihre Gefühle hin und her und mal zeigt sie sich sanft und liebenswürdig, mal ungerecht aufbrausend.

Dies ändert sich erst, als es einen Priester in die abgelegene Gegend verschlägt, der das Paar auf ihren Wunsch hin traut. In der Begegnung mit dem Priester wird deutlich, wie Fouqué die Theorien des Paracelsus aufgreift. Wir erinnern uns: Laut dieser Theorie sind Wassergeister zwar seelenlose, aber prinzipiell von Gott geschaffene Kreaturen. Als der Geistliche Undine in der Hütte erblickt, erstarrt er angesichts ihrer übermenschlichen Schönheit und beginnt ein Gebet zum Schutz vor Gespenstern. Undine reagiert darauf in Wassergeistmanier zwar keck, aber dennoch gottesfürchtig:

„Ich bin kein Gespenst“, sagte Undine lächelnd. „Seh‘ ich denn so häßlich aus? Zudem könnt Ihr ja wohl merken, daß mich kein frommer Spruch erschreckt. Ich weiß doch auch von Gott und verstehe ihn auch zu loben – jedweder auf seine Weise freilich, und dazu hat er uns erschaffen. Tretet ein, ehrwürdiger Vater, Ihr kommt zu guten Leuten.“3Friedrich de la Motte Fouqué: „Undine“ in: „Friedrich de la Motte Fouqué: Rittergeschichten und Gespenstersagen“. S. 31.

Laut mittelalterlicher Vorstellung gewinnt eine Nixe ihre Seele nicht durch den bloßen Hochzeitsakt, sondern durch die nachfolgende sexuelle Vereinigung mit dem Mann. Diese Vorstellung spiegelt sich auch in Fouqués Erzählung wider, denn unmittelbar nach der Trauung „schäumten alle wunderlichen Grillen, die in ihr hausten, um so dreister und kecker auf der Oberfläche hervor.4Friedrich de la Motte Fouqué: „Undine“ in: „Friedrich de la Motte Fouqué: Rittergeschichten und Gespenstersagen“. S. 35. Während der Hochzeit hatte Undine sich ruhig verhalten, aber direkt danach geht sie Eltern, Priester und Ehemann wieder gehörig auf die Nerven.

Es gibt jedoch einen Moment kurz nach der Hochzeit, da wird Undine ernst und gesteht dem Priester und Huldbrand schließlich, dass sie keine Seele besäße. Der Priester – wahrscheinlich in der Annahme, dass Undine wieder ihre Scherze treibe – reagiert zunächst zornig. Doch als sie unter Tränen beteuert, dass sie es nicht böse meint, geraten die Anwesenden ins Grübeln. Der Priester verlässt das frisch getraute Ehepaar mit folgender Empfehlung an Huldbrand: „Herr Bräutigam, ich lasse Euch allein mit der, die ich Euch angetraut habe. Soviel ich ergründen kann, ist nichts Übles an ihr, wohl aber viel Wundersames. Ich empfehle Euch Vorsicht, Liebe und Treue.5Friedrich de la Motte Fouqué: „Undine“ in: „Friedrich de la Motte Fouqué: Rittergeschichten und Gespenstersagen“. S. 37. An all diesen Dingen wird es Huldbrand später mangeln.

An jenem Tag steht Huldbrand aber trotz ihres Geständnisses fest zu seiner Undine. Dennoch wird er nachdenklich und erinnert sich daran, wie furchtlos Undine angesichts vermeintlicher Geister reagiert und diesen sogar noch mit ihrem Verwandten Kühleborn gedroht hatte (Kühleborn ist ein mächtiger Elementargeist, der über die bei den Menschen lebende Undine wacht. Zu diesem Zeitpunkt weiß der Ritter aber noch nicht, dass die beiden verwandt sind). Huldbrand fragt Undine daraufhin nach eben diesen Kühleborn. Die Verfehlung der noch unbeseelten Undine besteht darin, dass sie versucht, ihr Gerede von Kühleborn und Geistern als Märchen und einen ihrer typischen Scherze herunterzuspielen. Das ist insofern wichtig, dass Huldbrand in die Hochzeit eingewilligt hat, ohne zu wissen, dass Undine als Wassergeist gezwungen ist, Untreue mit dem Tod zu bestrafen!

„Märchen! Kindermärchen!“ sagte Undine lachend und ganz wieder in ihrer gewohnten Lustigkeit. „Erst hab‘ ich euch damit bange gemacht, am Ende habt ihr’s mir. Das ist das Ende vom Lied und vom ganzen Hochzeitsabend.“

„Nein, das ist es nicht“, sagte der von Liebe berauschte Ritter, löschte die Kerzen und trug seine schöne Geliebte unter tausend Küssen, vom Mond, der hell durch die Fenster hereinsah, anmutig beleuchted, in die Brautkammer hinein.6Friedrich de la Motte Fouqué: „Undine“ in: „Friedrich de la Motte Fouqué: Rittergeschichten und Gespenstersagen“. S. 37. 

Diese Nacht und nicht die Hochzeit ist es, die Undines Wandel vom launisch forschen Wassergeist zur gütigen und liebevollen Ehefrau markiert.

Christian Petzolds „Undine“ (2020) ist eine moderne Neuinterpretation des Märchens. Im Film versucht Undine, entgegen der Gesetze der Elementargeister das Leben ihres untreuen Freundes zu verschonen und eine neue Liebe zu finden. 

Die beseelte Wasserfrau als Idealbild: Undine nach der Hochzeitsnacht

Undines Wandel nach der Hochzeitsnacht vollzieht sich so plötzlich, dass er selbst ihre Angehörigen überrascht. Noch direkt am nächsten Morgen geht sie zu ihren Zieheltern und bedankt sich für all die Liebe, die sie von ihnen erfahren hat. Als sie die Fischerin am Herd sieht, übernimmt sie sämtliche Küchenarbeit, statt wie früher in der Natur herumzutollen, und besteht darauf, dass die alte Frau sich ausruhen kann.

Das Fischerpaar und Huldbrand trauen ihren Augen kaum und warten, dass Undine wieder in ihr altes Verhalten zurückfällt. Doch die nun beseelte Undine hat jedwedes Interesse an grausamen oder kindlichen Scherzen verloren:

Sie blieb den ganzen Tag so; still, freundlich und achtsam, ein Hausmütterlein und ein zart verschämtes, jungfräuliches Wesen zugleich. Die drei, die sie schon länger kannten, dachten jeden Augenblick irgendein wunderliches Wechselspiel ihres launischen Sinnes hervorbrechen zu sehen – aber sie warteten vergebens darauf: Undine blieb engelsmild und sanft.7Friedrich de la Motte Fouqué: „Undine“ in: „Friedrich de la Motte Fouqué: Rittergeschichten und Gespenstersagen“. S. 39.

Zwischen Hochzeit und Hochzeitsnacht hatte Undine ihre wahre Herkunft zwar angedeutet, aber dann einen Rückzieher gemacht, als Huldbrand konkrete Fragen stellte. Nun aber legt Undine ihrem Ehemann alles offen: Sie erzählt ihm von einem Reich der Wassergeister und Nixen, die seelenlos seien und deswegen immer fröhlich, da es nichts gäbe, was sie längerfristig betrübt. Und sie gesteht ihm, dass sie die Tochter eines mächtigen Wasserfürsten sei, der sie aus seinem Seepalast fort- und an Land geschickt habe, damit zumindest eine seiner Töchter eine Seele erlange.

Fouqué kontrastiert das Verhalten der früheren Undine und der beseelten Undine überdeutlich: Die gelegentliche Rücksichtslosigkeit gegenüber den Zieheltern weicht Dankbarkeit, und während sie Huldbrand früher ihre Herkunft verbarg, ist sie ihm gegenüber nun ehrlich.

Bild einer einer empörten Bertalda aus der Geschichte "Undine"
Bertalda steht für einen Frauentyp, dem vor allem der Status des anderen wichtig ist.

Bereits zuvor hatte Undine liebevolles Verhalten denen gegenüber gezeigt, die ihr wohlgesonnen waren. Nun zeigt sie aber allgemeine Nächstenliebe: Als Huldbrand ihr das erste Mal von Bertalda erzählte, biss sie ihm eifersüchtig in die Hand, damit er endlich aufhört, von dieser anderen Frau zu erzählen. Als Huldbrand dann aber zusammen mit Undine in die Stadt aufbricht und sie dort auf Bertalda treffen, freundet sich die Wasserfrau sogar mit ihrer Nebenbuhlerin an.

Schon vor ihrer Hochzeit waren Undine Standesdünkel und materielles Denken absolut fremd. Für die beseelte Undine gehört nun aber auch der Respekt vor den Eltern zu den Kardinaltugenden. Dementsprechend hat sie beste Absichten, als sie Bertalda offenbart, dass sie das verschollene Kind des alten Fischerpaars sei. Bertalda ist hier Kontrastfigur zu Undine, denn sie reagiert empört und fast angeekelt, als sie erfährt, was für arme Leute ihre echten Eltern sind. Ironischerweise ist es gerade dieser Standesdünkel, der Bertalda in die Armut führt, denn ihre eigenen Zieheltern sind so entsetzt über Bertaldas herzloses und arrogantes Verhalten, dass sie ihre Ziehtochter verstoßen. Doch obwohl Bertalda ihren schlechten Charakter überdeutlich gezeigt hat, setzt sich Undine dafür ein, dass Bertalda zusammen mit ihr auf Huldbands Burg leben darf.

Das alles ist sehr selbstlos, aber letztlich holt sich Undine damit ihre eigene Konkurrentin ins Haus, die wesentlich dazu beitragen wird, dass ihre Beziehung zu dem Ritter scheitert. Die gute Ehefrau zeichnet sich durch menschenfreundliche Tugenden aus, aber sie verlernt es, die eigenen Interessen gegen jene Menschen durchzusetzen, die ihr schaden. 

 

Die tugendhafte Wasserfrau im Kontrast zum unvollkommenen Menschen

Das Bild der tugendhaften Ehefrau, das Fouqué zeichnet, ist alles andere als modern. Die beseelte Undine ist eine sanfte Frau hinterm Herd, die Eltern und Ehemann gegenüber dankbar ist und wenig Widerworte gibt. Auch der Rat, dem der Priester Undine bei der Hochzeit gibt, entspricht ganz dem patriarchisch geprägten Erziehungsideal des 19. Jahrhunderts:

Mein anmutiges junges Mägdlein, man mag Euch zwar nicht ohne Ergötzen ansehen, aber denkt daran, Eure Seele beizeiten so zu stimmen, daß sie immer die Harmonie zur Seele Eures angetrauten Bräutigams anklingen lasse.8Friedrich de la Motte Fouqué: „Undine“ in: „Friedrich de la Motte Fouqué: Rittergeschichten und Gespenstersagen“. S. 36.

Diese Rolle der Ehefrau wird in Fouqués Erzählung keineswegs hinterfragt: Das Leben der Frau habe sich an den Gepflogenheiten des Mannes zu orientieren. In dieser Hinsicht war der Autor ganz Kind seiner Zeit. Fouqué war seiner Zeit aber insofern voraus, dass er sehr genau darstellt, wie toxisches geschlechtsspezifisches Rollenverhalten eine Beziehung ins Unglück stürzen kann. Der tugendhaften Undine stellt er die eitle und eifersüchtige Bertalda und den letztlich untreuen Huldbrand gegenüber, die beide zum tragischen Ausgang der Geschichte beitragen.

Und gerade der Kontrast zwischen der übernatürlichen, von engelshafter Geduld geleiteten Wasserfrau und den beiden fehlerbehafteten Menschen Huldbrand und Bertalda macht das Märchen Undine auch für heutige Generationen interessant. Denn beide zeigen Verhaltensmuster, denen man auch heutzutage noch in zahlreichen zum Scheitern verurteilten Beziehungen begegnen kann.

 

Ritter Huldbrand von Ringstetten braucht die Problemfrau für den Egopush

Undine: Vom Wassergeist zum Weibe
Ritter Huldbrand: Immer bereit, seine Liebste aus der Not zu retten. Und seine Liebste ist eben immer jene Frau, die gerade in Not ist.

Huldbrand ist keineswegs ein schlechter Mensch: Trotz seines hohen Standes ist er dem alten Fischerpaar gegenüber höflich, die Respektlosigkeiten Undines anderen gegenüber stören ihn und er ist ohne Weiteres bereit, in Not geratenen Leuten zu helfen. Allerdings trägt diese Rolle als Retter und Beschützer auch wesentlich zu seinem Selbstverständnis bei. Und infolgedessen zieht es ihn immer zu derjenigen Frau, die ihn die meisten Probleme macht.

Die Suche nach Herausforderungen ist für jemanden, der als Ritter erzogen wurde, sicher nichts Ungewöhnliches und prinzipiell auch nichts Schlechtes. Problematisch wird dies Verhalten dann, wenn man sich gezielt an solche Menschen bindet, deren schwierigen Charakter man als Herausforderung empfindet. Denn einerseits besteht das Risiko, dass man sich vor allem zu solchen Personen hingezogen fühlt, die einem eigentlich schaden. Zum anderen läuft man Gefahr, dass man die eigene Beziehung sabotiert, sobald sie zu ruhig und harmonisch geworden ist.

Darüber hinaus lässt sich nicht leugnen, dass Ritter Huldbrand zwar die christlichen Tugenden hochschätzt, aber dennoch vor allem die Zuneigung solcher Frauen genießt, die andere Menschen abwerten.

Eigentlich sollten bei einem die Alarmglocken schrillen, wenn jemand sich anderen gegenüber schlecht, verachtend oder respektlos verhält. Solche Menschen sind eher selten ideale Beziehungspartner, da sie diese Verhaltensmuster häufig auch ihrem Partner gegenüber zeigen, sobald die erste Verliebtheitsphase vorbei ist. Ritter Huldbrand leitet daraus aber eine besondere Exklusivität ab, die ihm offenbar schmeichelt. Wenn eine Frau allen anderen gegenüber ein Scheusal ist und nur ihm gegenüber nicht, dann muss ihre Liebe doch besonders viel wert sein!

Rational betrachtet weiß Huldbrand durchaus, dass die missgünstige Bertalda alles andere als eine gute Partie ist. Das wird auch in dem deutlich, was er Undine über sie erzählt:

„Sie ist eine hochmütige, wunderliche Maid, diese Bertalda. Sie gefiel mir auch am zweiten Tag schon lange nicht mehr so wie am ersten und am dritten noch weniger. Aber ich blieb um sie, weil sie freundlicher zu mir war als zu den anderen Rittern, und so kam es auch, daß ich sie im Scherz um einen ihrer Handschuhe bat. ‚Wenn Ihr mir Nachricht bringt – und Ihr ganz allein! –; wie es im berüchtigten Forst aussieht‘, sagte sie. Mir lag nicht eben nicht soviel an ihrem Handschuh, aber versprochen war versprochen, und ein ehrliebender Rittersmann läßt sich zu einem solchen Probestück nicht zweimal mahnen.“9Friedrich de la Motte Fouqué: „Undine“ in: „Friedrich de la Motte Fouqué: Rittergeschichten und Gespenstersagen“. S. 21.

Bertalda aus dem Märchen "Undine" rennt voller Angst durch einen verwunschenen Wald.
Kaum wird Bertalda durch eigene Schuld zur Maid in Nöten, ist sie für Huldbrand wieder interessant.

Huldbrand ist sich der Charakterschwächen Bertaldas bewusst, aber er empfindet es als schmeichelhaft, dass sie ihn besser als die anderen Ritter behandelt. Darüber hinaus weckt sie sein Ehrgefühl als Ritter: Den Handschuh einer Dame erbaten Ritter nämlich, um Minnedienst zu leisten – sie wollten ihre Zuneigung zur Frau durch einen gefährlichen Dienst beweisen. In der Literatur des Hochmittelalters galt dies als Geste der unschuldigen Verehrung der Angebeteten. Huldbrand ist sich aber bewusst, dass Bertalda dem Bild der holden Minnedame so gar nicht entspricht. Er handelt eher aus gesellschaftlicher Konvention heraus und weil er Gelegenheit wittert, seine Tapferkeit zu beweisen. Denn Bertalda verlangt etwas, was sich bislang kaum ein Mann traute: die Reise durch den verwunschenen Wald.

Die Zuneigung Bertaldas ist also verknüpft mit einer gewissen Exklusivität und der Möglichkeit, die eigene Mannhaftigkeit zu beweisen. All dies lässt Huldbrand offenbar vergessen, dass er sie eigentlich herzlich unsympathisch findet. Das gilt zumindest solange, bis er auf die ebenso forsche wie attraktive Undine stößt. Doch auch bei dieser spielt der Aspekt der Exklusivität eine Rolle: Huldbrand missfällt zwar Undines gelegentliche Kaltherzigkeit, aber er genießt durchaus, dass sie sich nur ihm gegenüber liebenswürdig zeigt.

Ja, diese Kombination aus Zuckerbrot und Peitsche scheint für ihn sogar einen Großteil der erotischen Anziehungskraft Undines auszumachen. Denn mit der Wandlung Undines zur menschenfreundlichen, tugendhaften Gattin verliert er das Interesse an ihr. Undines sanftmütiges Wesen stellt ihn vor keinerlei Probleme mehr und das Geständnis ihrer Herkunft macht deutlich, dass diese junge Frau seiner Hilfe gar nicht bedarf: Wer mächtige Wassergeister um Hilfe bitten kann, der braucht keinen um Tapferkeit bemühten Ritter.

So erlischt in Huldbrand das Feuer der Leidenschaft und er wendet sich auf seiner Burg wieder Bertalda zu. Wenn man die Handlung des Märchens straff zusammenfasst, dann kommt dabei ein fast schon komödiantisch anmutendes Hin und Her raus:

    • Huldbrand entfremdet sich von Undine, die ihm auf seiner Burg als sanfte Ehefrau zur Seite steht.
    • Bertalda, kritisiert die Entscheidung Undines, den Brunnen der Burg zu versperren. Huldbrand kann Undine also gegen Kritik verteidigen und fühlt sich ihr wieder verbunden.
    • Bertalda fühlt sich zurückgewiesen, verlässt die Burg und läuft in den verwunschenen Wald. Nun ist Bertalda einer echten Lebensgefahr ausgesetzt und muss beschützt werden. Also eilt Huldbrand ihr voller Liebeseifer hinterher.
    • In dem Forst beschwört der Wassergeist Kühleborn die Mächte seines Elements. Er hat genug von dem falschen Spiel, das Bertalda und Huldbrand spielen, und will sie als Strafe dafür , dass sie Undine hintergehen, in einem reißendem Strom ertränken. Letztlich ist es nicht Huldbrand, der Kühleborn stoppt, sondern die hübsche Undine. Der Ritter ist nun nicht mehr Retter, sondern vielmehr Geretteter.

Und mit dem letzten Ereignis ist der Untergang der Liebesbeziehung besiegelt: Huldbrand braucht Undine nicht zu retten, nein, sie ist es, die ihn rettet  oder darüber hinaus noch die Frau, mit der er sie hintergehen wird! Sein Selbstverständnis als Mann ist so darauf geprägt, der rettende Ritter der Frau zu sein, dass er sich lieber der charakterschwachen Bertalda zuwendet als der ihn fremdartigen Undine, deren Liebe er sich nicht stetig aufs Neue erkämpfen muss. Die unvollkommene Bertalda ist es auch, die eher seinem Wunsch nach einer konventionellen Ehe entspricht, die er beschützen kann und deren bisherige Lebenswelt eher der seinen entspricht.

Ausschnitt von Ritter Huldbrand, der sich eine Rose vor den Harnisch hält
 Ritter Huldbrand neigt immer jener Frau zu, die ihn vor lösbare Probleme stellt, damit er sein Selbstverständnis als Beschützer bewahren kann – auch dann, wenn die Frau selbst die Probleme verursacht.

Der Zwiespalt zwischen romantischer Liebesvorstellung und bürgerlicher Erwartung, der das 19. Jahrhundert prägt, spiegelt sich auch in Fouqués Märchen wider: Auf der einen Seite sehnt sich Huldbrand nach der zügellosen, bedingungslosen Liebe der jungen Undine und ihn fasziniert ihre Andersartigkeit. Auf der anderen Seite wünscht er sich eine standesgemäße Ehefrau, die ihn regelmäßig vor lösbare Probleme stellt, damit er seinen Wert beweisen kann. Und während der Ritter direkt nach der Hochzeit Undine noch im Liebestaumel versprach, dass ihre Herkunft ihn nicht stört und er ihr immer treu bleiben werde, reagiert er später voller Zorn, als er vom fortbestehenden Kontakt Undines zu ihrer übernatürlichen Verwandtschaft erfährt. Seine letzten Worte vor ihrer Trennung schreit er ihr wuterfüllt entgegen: 

So hast du denn immer noch Verbindung zu ihnen? Bleib bei ihnen in aller Hexen Namen mit all deinen Geschenken, und lass uns Menschen zufrieden […]!10Friedrich de la Motte Fouqué: „Undine“ in: „Friedrich de la Motte Fouqué: Rittergeschichten und Gespenstersagen“. S. 21.

Der Streit ereignet sich während einer Bootsfahrt unseres Dreiecksgespanns aus Undine, Huldbrand und Bertalda. Und den Gesetzen der Wasserwelt zufolge muss Undine in die Fluten zurückkehren, wenn ihr Ehemann sie auf dem Wasser verflucht. Huldbrand ist das in dieser Situation herzlich egal, obwohl es kaum Grund gibt, auf Undine sauer zu sein: Ein Wassergeist hatte Bertalda ihre Halskette entrissen und ihr Weinen weckt den Beschützerinstinkt des Ritters. Undine hat Mitleid mit der Bestohlenen und lässt sich von ihren geisterhaften Verwandten eine Korallenkette als Ersatz bringen, die sie Bertalda anbietet. Doch diese eigentlich nette Geste entzürnt Huldbrand nur noch mehr, da sie für ihn Beweis ist, dass Undine weiterhin Kontakt zur unheimlichen Geisterwelt hat.

Das Fremdartige an Undine war Huldbrand nur bereit, zu tolerieren, solange zwischen beiden erotische Anziehungskraft herrschte. Als diese schwindet, empfindet er sie als Kluft. Gleichzeitig wird ihm die sorgsame und menschenliebende Undine überdies auch noch langweilig und er wendet sich der launischen Bertalda zu. Würde Huldbrand in der heutigen Zeit leben, könnte man wohl sagen, dass er eine ungesunde Neigung zu Drama-Queens hat.

 

Undine: Vom Wassergeist zum Weibe
Aufbrausend, arrogant und reumütig nur, wenn sie nichts mehr zu verlieren hat: Bertalda, die zweite Ehefrau von Huldbrand.


Gefangen in Statusdenken und Eifersucht: Bertalda

Anders als Huldbrand, der durchaus auch sympathische Charakterzüge hat, ist Bertalda eine überwiegend negative Figur. Sie wird beherrscht von einem starren Statusdenken, Eitelkeit und später auch von Eifersucht auf Undine.

Noch bevor sie tatsächlich in der Geschichte auftritt, erfahren wir bereits durch Huldbrand etwas über sie. Offenbar hatte sie großes Interesse an dem Ritter. Und auch, wenn der Minnedienst in der damaligen Literatur als höfisches Ideal galt, hätte eine wohlwollendere Frau wahrscheinlich einen ungefährlicheren Minnedienst verlangt. Nicht so aber Bertalda: Der Ritter, dem sie ohnehin schon zugetan ist, muss trotzdem seinen Wert beweisen, indem er einen Wald voller mächtiger und teils boshafter Geister erkundet. Denn unter Wert will sich eine edle Bertalda schließlich nicht verkaufen.

Es ergeht ihr, wie so manch anderer Frau, die ihren Schwarm erstmal zappeln lässt, damit er sich beruflich beweisen kann: Er wendet sich einer anderen Frau zu, die nicht zig Bedingungen stellt.

Undine: Vom Wassergeist zum Weibe
Der Schwarm begehrt jemand anderen? Viele Menschen reagieren dann wie Bertalda: Sie hinterfragen weder ihr eigenes Verhalten noch das des Schwarms, sondern intrigieren gegen die vermeintliche Konkurrenz.

Solch eine Wendung ist erwartbar. Dennoch könnte man gute Gründe dafür finden, dass Bertalda auf Huldbrand wütend ist. Schließlich hatte dieser sich ihr gegenüber zum Minnedienst verpflichtet. Ihr Groll richtet sich allerdings nicht gegen Huldbrand, sondern immer wieder gegen Undine. Auch dies ist ein Verhalten, dass eben nicht nur im 19. Jahrhundert üblich war, sondern das man auch heutzutage beobachten kann: Statt auf den wütend zu sein, der einen persönlich kannte und sitzen ließ, richtet man seinen Zorn auf die Nebenbuhlerin oder den Nebenbuhler. Also auf eine Person, die einen weder kannte noch zu irgendwas verpflichtet war.

Zeitweise wirkt es so, als ob Bertalda sich ihrer Fehler bewusst sei und sich reumütig zeigt, aber dies offenbart sich im Nachhinein stets als berechnende Maskerade. So entwickelt sich zwischen Undine und Bertalda trotz ihrer Vorgeschichte und der eifersuchtsgeprägten Dreiecksbeziehung zu Huldbrand zunächst eine Freundschaft. Doch die riskiert Bertalda ohne Skrupel in einem Zornesausbruch, als Undine vor einer größeren Gruppe Bertaldas wahre Eltern offenbart. Als Undine mit ihrer Geschichte beginnt, ist Bertalda zunächst ganz aufgeregt, da sie schon ahnt, dass sie bald ihre leiblichen Eltern kennenlernen wird.

Und in ihrem Statusstreben blickt sie erwartungsvoll die Stadtherrscher an, in denen sie ihre wahren Eltern vermutet. Als Undine dann aber auf das arme Fischerpaar verweist, ist es mit der Freundschaft vorbei:

Aber entsetzt und zürnend riß sich Bertalda aus ihrer Umarmung los. Es war zuviel für dieses stolze Gemüt […]. Es kam ihr vor, als habe ihre Nebenbuhlerin dies alles ersonnen, um sie […] vor Huldbrand und der Welt zu demütigen. Sie schalt Undine, sie schalt die beiden Alten; die häßlichen Worte Betrügerin! und Erkauftes Volk rissen sich von ihren Lippen.11Friedrich de la Motte Fouqué: „Undine“ in: „Friedrich de la Motte Fouqué: Rittergeschichten und Gespenstersagen“. S. 53.

Als der Traum, aufgrund ihrer Abstammung im Adel weiter aufzusteigen, so jäh zerplatzt, wird Bertalda zur Furie. Sie wirft Undine an den Kopf, dass sie eine Hexe und Prahlerin sei, die sich Lügengeschichten ausdenken würde. Erst auf dem Tiefpunkt, als sie von ihren Zieheltern verstoßen in ärmlicher Fischerkleidung nach einer Bleibe sucht, zeigt sie Undine gegenüber Reue. Hierbei ist aber mehr als fraglich, dass es sich um echte Reue handelt. Vielmehr scheint es so, als ob sie nur die Konsequenzen ihres Verhalten bereut, nicht aber ihr Verhalten selbst. Dass Bertalda sich nun verständnisvoll und reumütig zeigt, wäre demnach nur Taktik, damit die Menschen ihr gegenüber wieder freundlicher sind. Und diese Taktik geht auf, denn Undine bietet Bertalda an, zusammen mit ihr und ihrem Gemahl auf Huldbrands Burg zu leben.

Dass Bertaldas Reue tatsächlich nur gespielt war, lässt sich daran erkennen, dass sie ihr sanftes Wesen nur zeigt, wenn sie gerade in einer Position der Schwäche ist. Denn als sie auf der Burg zunehmend Huldbrands Zuneigung gewinnt und wieder den Luxus einer Dienerschaft genießt, behandelt sie ihre Untergebenen zunehmend herablassend. Bertaldas Statusdenken überdeckt jeden Anflug von Liebe und Freundschaft: Als sie sich für eine adlige Dame hält, schickt sie den Ritter, den sie eigentlich begehrt, auf ein Himmelfahrtskommando, damit dieser vorab seinen Wert beweisen kann. Nachdem dieser dann Undine geheiratet hat, verhält sie sich nicht gegenüber Huldbrand zornig, sondern  intrigiert gegen Undine.

Bertalda weist also die aufrechte Freundschaft Undines zurück, um die Nähe zu einem Mann zu suchen, für den sie eigentlich nur die zweite Wahl ist, der ihr aber eine Bleibe und ein sicheres Auskommen bieten kann. Damit ist Bertalda praktisch das fehlerhafte Gegenbild zur beseelten Undine, die ihren Mitmenschen stets nur das Gute will. Bertalda verkörpert die unperfekte, in die sozialen Gepflogenheiten eingebundene Frau.

Meerjungfrau in tosenden FLuten

 

Undines Aktualität: Die Beziehungsmuster in Fouqués Erzählung

Man kann die beseelte Undine durchaus als Idealbild der damaligen Zeit verstehen (als sanfte, immer gutherzige Frau), doch ihre Geschichte hat kein Happy End. Fouqué  ging es also keineswegs darum, im erzieherischen Sinne ein bestimmtes Frauenbild zu propagieren. Denn anders als in vielen Volksmärchen wird das brave und tüchtige Mädchen bei ihm nicht belohnt. Der Schriftsteller war sich bewusst, dass die vermeintliche Traumfrau in einer echten Beziehung scheitern würde. Und das liegt nicht etwa an ihr, sondern vor allem an den unvereinbaren Erwartungen des Mannes.

Auf der einen Seite begehrt Huldbrand das unangepasste Naturkind, dessen fremdartige Launenhaftigkeit auf ihn durchaus einen erotischen Reiz ausübt. Auf der anderen Seite wünscht er sich aber eine sittsame und moralischere Frau, da ihn die Amoralität der seelenlosen Undine stört. Die moralische Undine verliert für ihn wiederum an sexuellem Reiz. Zudem stellt Undine ihn nach der Hochzeit vor zu wenig Herausforderungen, was seinem Selbstbild als Beschützer zuwiderläuft. So wendet er sich der mit den höfischen Gepflogenheiten vertrauten Bertalda zu, bei der er sich als starker Retter fühlen kann. Doch letztlich empfindet Huldbrand für Bertalda nie jene Leidenschaft, die er für Undine gefühlt hat.

Durch die Figur des Ritter Huldbrands illustriert Fouqué eines der Kernprobleme der Romantik: den unerfüllbaren Wunsch, Natur und Kultur, überbordendes Gefühl und Vernunft zu verbinden. Die romantischen Künstler jener Zeit idealisierten zwar die Natur, doch waren sie letztlich im städtischen Bürgertum verwurzelt und zuhause. Huldbrand ist von dem naturnahen Wassergeist Undine fasziniert, aber versucht die Frau dennoch zu domestizieren, ihr die Wildheit und das Ungestüme abzugewöhnen. Eben ganz so, wie der Mensch die Natur domestiziert. Doch damit verliert sie für den Menschen eben auch ihren urtümlichen und mystischen Reiz.

Aber die Figurenkonstellation lässt sich auch auf einer persönlicheren Ebene deuten und weist dann auf gesellschaftliche Probleme hin, die bis heute weiterbestehen.

Archetypen des Scheiterns: Die Rollenbilder in Undine sind bis heute nicht überwunden

Undine: Vom Wassergeist zum Weibe
Das erotische Verlangen nach einer jüngeren Kindfrau im Teenageralter ist nichts, was nur Huldbrand kennt. Tatsächlich gibt es dafür einen Fachbegriff, der sich auf weibliche Naturgeister wie Undine bezieht: Nymphophilie.

Huldbrand ist ein Mann, der unentschlossen zwischen zwei Frauen schwankt: Der einerseits für die impulsive, erotisch-jugendliche Undine schwärmt, sich aber andererseits eine unkomplizierte, tugendhafte Ehefrau wünscht. Gleichzeitig benötigt er für sein Selbstbild als starker Beschützer aber eine Frau, die ständig Unterstützung braucht. Hier kommt Bertalda ins Spiel.

Auch wenn Huldbrand ein Ritter ist, ist das kein antiquiertes Männerbild aus dem 19. Jahrhundert. Männer, die sich nach „unangepassten Teenager-Mädchen“ sehnen, die ihnen aber für eine langfristige Beziehung zu stressig sind, gibt es heutzutage ebenso wie solche Männer, die sich freiwillig in toxische Beziehungen begeben, in denen jede Kleinigkeit zum Drama aufgebauscht wird. Aber nach jedem Mini-Drama können sie dann die Rolle des überlegenen Trösters einnehmen.

Aber neben Huldbrand boykottiert auch Bertalda beständig ihr zwischenmenschliches Glück. Undine macht sich sogar darüber lustig, dass Bertaldas erster Impuls ist, den Mann wegzuschicken, den sie begehrt, damit er sich beweisen kann. Als die beseelte Undine sich mit ihr anfreundet, riskiert Bertalda diese Freundschaft aus Eifersucht und hängt stattdessen jenem Huldbrand nach, der sie hat abblitzen lassen. Sei es aus verletztem Stolz oder materialistischer Gier, weil er ihr Sprungbrett zurück in die höfische Gesellschaft ist.

Und Undine? Die beseelte Undine, die scheinbar perfekte Frau? Je mehr sie sich dem damaligen Idealbild der Frau annähert, desto mehr verliert sie ihre Unabhängigkeit und desto schlechter wird sie behandelt. Aus moralischer Sicht mag es gut sein, dass sie ihre frühere Kaltherzigkeit ablegt, aber je weiter ihre Entwicklung voranschreitet, desto stärker ignoriert sie ihre eigenen Bedürfnisse. Schon die Idee, durch die Liebesnacht mit einem Menschen eine Seele zu gewinnen, entsprang nicht ihr selbst, sondern ihrem Vater, dem Wasserfürsten.12Friedrich de la Motte Fouqué: „Undine“ in: „Friedrich de la Motte Fouqué: Rittergeschichten und Gespenstersagen“. S. 42. Bertalda, von der sie am Tag zuvor als Hexe beschimpft wurde, nimmt sie aus Mitleid mit auf die Burg. Und darf dort ganz sittsam miterleben, wie Bertalda sich an ihren Ehemann heranmacht. Stellt sie die beiden zur Rede? Nein! Stattdessen versperrt sie für Bertalda den Burgbrunnen, über den der Wassergeist Kühleborn in die Burg eindringen kann. Und damit verbannt Undine letztlich den einzigen leiblichen Verwandten aus ihrem Leben, mit dem sie noch Kontakt hatte. Eine Frau passt sich bis zur Selbstaufgabe an die ihr fremde Kultur und ihren Ehemann an und bricht sogar den Kontakt zu ihrer mahnenden Verwandtschaft ab, die das Unglück bereits kommen sieht.

Zwei weibliche Wassergeister mit verschlungenen Fischschwänzen

 

Fazit: Es gibt keine perfekte Beziehung, weil es keinen perfekten Menschen gibt

Ich bin sicher, die meisten kennen mindestens ein Paar, in dem es ähnliche toxische Verhaltensmuster gab. Und es ist bezeichnend für Fouqués Geschichte, dass jene Figur, die ihren Feinden verzeiht, die über die Fehler ihres Partners hinwegsieht und die sich ohne Forderungen beständig um ihn bemüht, kein Mensch ist. Die Menschen bei Fouqué sind zwar nicht von Grund auf schlecht, aber handeln oft ungerecht und egoistisch. Nachdem Undine in die Fluten gestiegen ist, vermutet Huldbrand zwar, dass sie umgekommen ist, doch Gewissheit hat er nicht. Dennoch heiratet er bereits kurz darauf Bertalda. Diese wiederum verschwendet am Hochzeitstag kaum einen Gedanken an die vermeintlich tote Freundin, sondern zeigt sich überaus vergnügt. Doch als Undine – aufgrund der magischen Gesetze der Wasserwelt13Diese Gesetze der Wasserelementare findet man ebenfalls in Paracelsus Schriften. Vgl. Paracelsus, Theophrastos: „Liber de Nymphis. S. 141. dem untreuen Ritter den Todeskuss gibt, bebt Huldbrand vor Liebe. Bereits kurz nach der Hochzeit mit Bertalda schlägt sein Herz wieder für Undine.

Kaum ein Mensch in dieser Geschichte überwindet seine alten Verhaltensmuster. Bei keinem hat die Trauer Bestand. Undine hingegen verwandelt sich vor dem Grab Huldbrands in eine Quelle, aus der ein den Grabhügel umfließendes Bächlein entspringt. Auf diese Weise bleibt sie dem Ritter über den Tod hinaus verbunden. Aber Undine ist eben kein Mensch: Die sanftmütige Ehefrau, die es schafft Natürlichkeit und menschliche Zurückhaltung zu vereinen, ist eine unwirkliche geisterhafte Figur aus Sagen und Legenden. Für Fouqué ist sie eine unerreichbare Utopie, die letztlich an den unvollkommenen Menschen scheitert. An unentschlossenen Männern wie Huldbrand, denen das bloße Gefühl von Stärke wichtiger ist als echte Charakterstärke, und an materialistischen Frauen, denen Geld und Status wichtiger ist als echte Freundschaft.

Undine als Idealbild mag veraltet sein, ihre Gutmütigkeit bis zur Selbstaufgabe ist weder aus psychologischer noch aus feministischer Sicht erstrebenswert. Doch als Illustration typisch männlicher und weiblicher Verhaltensmuster, mit denen Menschen letztlich ihr eigenes Beziehungsglück sabotieren, bleibt das Märchen um Undine bis heute aktuell.

 



Literaturverzeichnis

de la Motte Fouqué, Friedrich: „Undine“ in: „Friedrich de la Motte Fouqué: Rittergeschichten und Gespenstersagen“. München: 2000. S. 5 bis 87.

Paracelsus, Theophrastos: „Liber de Nymphis, Sylphis, Pygmaeis et Salamandris et de Caeteris spiritibus“. Hrsg. v. Robert Blaser. Darmstadt: 1976.

Ranke, Kurt: „Enzyklopädie des Märchens. Band 3“. Berlin, New York: 1981.

Rousseau, Jean-Jacques: „Émile oder Über die Erziehung“. Paderborn: 1998.

 

Bildnachweise:

 

 



Autor: Marius Tahira

Blogger und hauptsächlich Verantwortlicher der Website marius-tahira.de, auf der er sich den Genres Horror, Dystopie und Thriller widmet. Nach einer Verlagsausbildung und seinem Germanistikstudium war er lange Zeit im Lektorat tätig und arbeitet nun im Bereich der Suchmaschinenoptimierung.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Leave the field below empty!