Die Legende vom Candyman: Die Promotionsstudentin Helen spürt für ihre Doktorarbeit der Urban Legend um den sogenannten Candyman nach. Die Legende besagt Folgendes: Wenn man sich vor einen Spiegel stellt und fünfmal seinen Namen nennt, dann erscheint der Candyman und schlitzt mit einem Haken jene auf, die ihn gerufen haben. Neugierig und davon überzeugt, dass an den angstvoll erzählten Geschichten nichts Wahres dran ist, lässt Helen es auf einen Versuch ankommen. Die Prämisse des Films Candyman’s Fluch (Originaltitel: Candyman) klingt zunächst nach einem typischen Slasher der 80er-Jahre. Einem jener vielen Filme, in denen sich die Angst einer weißen Mittelschicht widerspiegelt, dass das Fremde in ihr geordnetes Idyll eindringen könnte. Candyman greift dieses Konzept aber sehr bewusst auf, hinterfragt es und bietet darüber hinaus noch zahlreiche weitere Themen, die interessante Deutungen des Films erlauben.
Es ist das Muster zahlreicher Horrorfilme: Die Protagonisten sind Teenager oder junge Erwachsene der (oberen) Mittelschicht, die in einer gepflegten Kleinstadt oder den ruhigeren Randzonen einer Großstadt wohnen. Dort leben sie weitgehend sorgenfrei, bis dann ein meist männlicher Killer in das beschauliche Leben der Figuren einbricht. Diese Filme offenbaren kaum verschlüsselt die Ängste einer Generation, die den wirtschaftlichen Aufschwung in den 60er- und 70er-Jahren miterlebt und davon profitiert hat: die Bedrohung des eigenen Wohlstands und der Kernfamilie durch Einflüsse von außen. Und so ist es kein Wunder, dass die meisten Killer in Slasherfilmen von ausgeprägter maskuliner Stärke sind und den typischen Formeln des 80er-Jahre-Kinos folgend zunächst jene Jugendliche umbringen, die ein sexuell freizügiges Leben führen, Drogen nehmen oder nicht gleich auf Abstand gehen, wenn sie Kontakt zu einem Fremden haben. Diese Filme lassen sich als Repräsentation eines konservativen Bürgertums deuten, das fürchtet, seinen Reichtum an andere Klassen und seine Töchter an nicht standesgemäße Männer oder kriminelle Einflüsse zu verlieren. (Und so verwundert es kaum, dass in diesen Filmen am Ende fast immer das scheue, sexuell enthaltsame Final Girl überlebt)
Der wenig beeindruckende Trailer von Candyman lässt auf einen sehr generischen 0815-Horrorfilm schließen und spiegelt leider kaum die thematische Tiefe dieses Films wider.
Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man zu dem Schluss kommen, dass Bernhard Roses Film Candyman’s Fluch genau in dieselbe Kerbe schlägt. Die Hauptfigur Helen Lyde1In der literarischen Vorlage heißt sie übrigens Helen Buchanan. Vgl. Clive Barker: „Das Verbotene“ in: Die Bücher des Blutes IV–VI. Erftstadt: 2005. S. 284. ist eine junge, weiße Akademikerin, die in den Ghettos von Chicago auf den dunkelhäutigen Candyman stößt (im Film dargestellt vom tiefstimmigen, fast 2 Meter großen Tony Todd). Nach dieser Begegnung wird sie hinabgezogen in einen Strudel aus Kontrollverlust und blutigen Morden. Candyman unterscheidet sich jedoch insofern von anderen Horrorfilmen der 80er und frühen 90er, dass er den Rassismus dieser Zeit nicht unreflektiert übernimmt, sondern gezielt zum Thema des Films macht und ihn teilweise auch hinterfragt. Darüber hinaus lassen sich aber noch weitere interessante Themenkomplexe in Candyman entdecken, wenn man sich die Mühe macht, hinter die Fassade des zunächst konventionell erscheinenden Horrorfilms zu schauen. So kann man den Film nicht nur als Darstellung amerikanischen Rassismus‚ interpretieren, sondern ebenso als Geschichte übers Geschichtenerzählen. Auch eine psychologisch-feministische Deutung ist möglich. In dieser Interpretation erzählt Candyman vor allem die Geschichte einer Frau, die an der männlichen Unterdrückung zerbricht.
Im Folgenden möchte ich all diese Themenbereiche und Interpretationsmöglichkeiten kurz vorstellen. So viel sei vorweggenommen: Sie widersprechen sich nicht, sondern die einzelnen Interpretationen können problemlos nebeneinander existieren. Und wenn ein paar Leser aufgrund dieses Artikels Lust bekommen, Candyman zu schauen, um zu sehen, welcher Deutung sie am meisten abgewinnen können, hätte ich mein Ziel beim Schreiben dieses Artikels schon erreicht.
Candyman: Unterschiede zwischen Buch und Film
Bei Clive Barkers Vorlage, der Kurzgeschichte „Das Verbotene“, handelt es sich um einen Text von wenigen Dutzend Seiten Länge. Die Verfilmung von Bernhard Rose hingegen hat eine Spielzeit von rund 100 Minuten. Allein diese Gegenüberstellung verdeutlicht, dass bei der Verfilmung nicht – wie sonst üblich – etliche Szenen der literarischen Vorlage gestrichen werden mussten, sondern man vielmehr zusätzliche Szenen hinzuzudichten musste, um auf Spielfilmlänge zu kommen. So sind der Mythos um die Anrufung vor einem Spiegel, die Geschichten zur Vergangenheit des Candyman und viele seiner später gezeigten Morde samt und sonders Erfindungen des Films. Was beide Werke als gemeinsames Thema eint, ist das Erzählen von schaurigen Geschichten und urbanen Legenden, die städtische Elendsviertel als Handlungsort haben.
Helen wird auch in Clive Barkers Vorlage von ihren männlichen Universitätskollegen nicht ernst genommen, doch die Kurzgeschichte erzählt nicht von einer schrittweise zunehmenden Unterdrückung bzw. Abwertung der Frau. Vielmehr wird Helens Ehe von Anfang an als gescheitert beschrieben: Sie weiß bereits ganz zu Beginn von Affären ihres Mannes Trevor, den sie aber ohnehin kaum noch liebt, sondern abwechselnd verachtet oder bemitleidet.
Das Motiv eines unterschwelligen Rassismus taucht erst in der Filmversion auf. Es resultiert nicht nur aus der Verlegung des Handlungsgeschehens in das Viertel Cabrini-Green in Chigaco, sondern auch aus einer Veränderung der titelgebenden Figur: des Candyman. Erst im Film tritt dieser als imposanter Schwarzer in Erscheinung. In der Kurzgeschichte wird er zwar ebenfalls von Bienen umschwärmt und hat einen blutigen Haken statt einer Hand, aber er ist dort ein grotesk aussehender Bonbonverkäufer, der nach Zuckerwatte riecht:
Er war bunt bis zur Geschmacklosigkeit: sein Fleisch ein wächsernes Gelb, seine schmalen Augen blaßblau; seine irren Augen funkelten, als ob ihre Iris mit Rubinen besetzt wäre. Seine Jacke war aus Flicken zusammengestückelt, seine Hose ebenso. Ja, eigentlich sah er fast lächerlich aus, mit seinem blutbefleckten Narrenkleid und dem Hauch von Rouge auf seinen gelbsüchtigen Wangen.
Schon allein der Name „Candyman„ lässt sich bei beiden Werken unterschiedlich interpretieren. In der Kurzgeschichte tötet er ein Kind. Sein Leitspruch „Süßes für die Süße“ hat durchaus auch eine sexuelle Konnotation, und am Ort seines Auftretens findet Helen mehrere Bonbons. Der Candyman in Clive Barkers Kurzgeschichte greift somit die Angst vor dem Fremden auf, der Kinder und junge Frauen mit Süßigkeiten verführt, um sie dann zu töten oder sexuell zu missbrauchen. Im Amerikanischen Slang hat der Begriff „Candyman“ aber noch eine andere Bedeutung: „Candyman“ ist dort auch eine verharmlosende Bezeichnung für einen Drogendealer. Dass in Bernhard Roses Film der Candyman als Schwarzer in einem amerikanischen Ghetto erscheint, zeigt, dass der Film eher die mit rassistischen Stereotypen verbundenen Ängste aufgreift als die Furcht vor dem bonbonverteilenden Lustmörder.
Meine folgenden Ausführungen beziehen sich größtenteils auf die Verfilmung, aber vereinzelt werde ich auch auf Clive Barkers Kurzgeschichte verweisen, wenn diese ähnliche Themenbereiche wie die Verfilmung streift.
Themenkomplex 1: Ethnische und Klassenhierarchien in Candyman
Die Unterschiede zwischen den sozialen Klassen spielen bereits in der literarischen Vorlage eine Rolle. Die Hauptfigur Helen besucht das Elendsviertel einer englischen Universitätsstadt, um dort Stoff für ihre Doktorarbeit zu sammeln: „Graffiti: zur Semiontik urbaner Hoffnungslosigkeit“. Sie selbst wohnt aber nicht in diesem Viertel, sondern betritt es lediglich aus Forschungsinteresse und morbider Neugier an dieser für sie so unbekannten, verwahrlost und gefährlich wirkenden Welt. Ihre Sprache unterscheidet sich deutlich von der der Anwohner und entspricht eher dem Sprachduktus ihrer akademischen Freunde, die das Leben und die Gerüchte um dieses Viertel distanziert und zum Teil auch spöttisch bewerten. Dass dieser Bezirk nicht Helens gewohnte Umgebung ist, macht der Autor Clive Barker auf den ersten Seiten überdeutlich:
Selten hatte Helen einen derart rigoros zerstörten Innenstadtbereich gesehen. Lampen waren zertrümmert und Hinterhofzäune eingerissen; Wägen, deren Räder und Motoren man entfernt und deren Fahrgestelle man dann in Brand gesteckt hatte, blockierten Garagenanlagen. In einem der Höfe waren drei oder vier Erdgeschoss-Maisonettes vollständig ausgebrannt, ihre Fenster und Türen mit Wellblech verrammelt.
Der Film Candyman verlagert den Handlungsschauplatz von England nach Amerika: in die Cabrini Green Homes. Dabei handelt es sich um ein Viertel am östlichen Rand Chicagos, das im Rahmen eines öffentlichen Wohnbauprojekts errichtet worden war. Die ersten zweistöckigen Reihenhäuser in dieser später von Hochhäusern geprägten Wohnsiedlung wurden bereits in den 40er-Jahren erbaut. Die gesetzlichen Bestimmungen sahen damals noch eine feste Verteilung nach Ethnien vor, laut der die meisten Häuser an Weiße gehen sollten. In den 60er-Jahren gab es jedoch eine Klage gegen die rassendiskriminierende Durchführung und Verwaltung des Wohnbauprojekts. In den Folgejahren siedelten sich überwiegend Bürger schwarz-afrikanischer Abstammung in Cabrini Green an, später lebten dort dichtgedrängt vor allem italienische Migranten und deren Nachkommen. Die Gelder für das Wohnbauprojekt wurden reduziert, das Viertel verwahrloste und die Kriminalität nahm zu. Lange Zeit war Cabrini Green praktisch Symbol für die Verfehlungen amerikanischer Wohnbau-Projekte.
Das ist der Hintergrund, vor dem der Film spielt. 1995 – nur wenige Jahre nach dem Film – begann die Chicago Housing Authority mit dem Abriss der zum Teil völlig baufälligen Hochhäuser in Cabrini-Green.
In der Kurzgeschichte spielt Rassismus überhaupt keine Rolle. Erst die Verfilmung erweitert die Vorlage um dieses Thema, indem es den Handlungsort nicht nur in ein amerikanisches Stadtviertel verlegt, das von ethnischen Konflikten geprägt ist, sondern indem der Film dem nunmehr dunkelhäutigen Candyman auch eine von Rassismus geprägte Entstehungsgeschichte gibt. So erzählt der Professor Philip Purcell der Helen vom Entstehungsmythos des Candyman:
Es handle sich bei dem Candyman um den Geist eines kurz nach dem amerikanischen Bürgerkrieg ermordeten Schwarzen. Dieser war zu Lebzeiten ein talentierter und gebildeter Künstler und hatte von einem reichen Gutsherren den Auftrag erhalten, ein Gemälde von dessen Tochter zu malen. Es bahnte sich eine Beziehung zwischen dem Künstler und der weißen Gutsherrentochter an. Als ihr Vater davon erfuhr, wurde er so zornig, dass er mehrere Schläger anheuerte, dem Künstler aufzulauern. Sie ergriffen ihn und sägten ihm mit einer rostigen Klinge die rechte Hand ab. Dann rieben sie ihn mit Honig ein und zerschlugen die Bienenstöcke einer nahegelegenen Imkerei. Der Künstler wurde daraufhin von den Insekten zu Tode gestochen. Die Männer verbrannten anschließend seine Leiche und verteilten die Asche in Cabrini Green. Nun würde der Geist des Künstlers als Candyman voller Wut über diese ungerechte Gräueltat Cabrini-Green heimsuchen.
Diese Geschichte zeigt, wie der Film Candyman die titelgebende Figur gleich mehrfach mit dem Thema des amerikanischen Rassismus verknüpft: Der Handlungsort wird in ein amerikanisches Stadtviertel verlegt, das lange Zeit geprägt war von einer rassistischen Leitung und Verwaltung des Wohnbauprojekts. In diesem Umfeld tritt der Candyman nicht als die grotesk bunte Figur der Kurzgeschichte auf, sondern als bedrohlich wirkender Schwarzer. Gleichzeitig verknüpft man seine Entstehung mit einer Tragödie, in der die Vertreter des wohlhabenden Bürgertum die Annäherung eines Schwarzen an eine weiße Frau bestialisch mit dem Tode bestrafen. Vor diesem Hintergrund kann der mehrdeutige Begriff „Candyman“ sowohl als Anspielung auf seine rassistisch motivierte Hinrichtung verstanden werden (bei seiner Ermordung wurde er mit süßem Honig eingeschmiert) als auch auf die Angst vor Schwerstkriminellen der Drogenszene hindeuten („Candyman“ als euphemistische Bezeichnung für einen Drogendealer).
Zusammenfassend verkörpert die Figur des Candyman im Film folgende drei Merkmale:
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- die Sogkraft unheimlicher Geschichten um grausame Verbrechen
- die Konflikte der unterschiedlichen sozialen Klassen
- die Latente Furcht vor dem Aufbegehren der rassistisch Unterdrückten
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Der von der weißen Rassisten Ermordete kehrt praktisch in Gestalt eines untoten schwarzen Mannes zurück, um das Leben und die Träume der schuldig gewordenen amerikanischen Bürger heimzusuchen. Das Ganze ließe sich durchaus als wortwörtlich gemeinte Geschichte um einen Rachegeist deuten. In dieser Deutung wäre der Candyman mit der Horror-Ikone Freddy Krüger vergleichbar: Beiden ginge es dann darum, dass die Geschichten um ihre Vergangenheit nicht vergessen werden, da sie ihre Kraft aus der Furcht der Menschen ziehen.
Aber der Film gibt zahlreiche Hinweise, die auch eine andere Interpretation erlauben. So kann man den Candyman auch als Figur verstehen, die tatsächlich nur in den urbanen Mythen existiert und Ausdruck der unterdrückten Ängste und überspannten Fantasien der Stadtbevölkerung ist. Einen real existierenden Candyman gäbe es demnach gar nicht. Und letztlich – darauf komme ich später noch zu sprechen – kann auch kein einziger der gezeigten Morde in Bernhard Roses Film mit absoluter Gewissheit dem Candyman zugeordnet werden.
Badezimmer und Hochhaus in Cabrini Green aus Cabrini-Green: Ansichten vor und nach den Abrissmaßnahmen.
Themenkomplex 2: Eine Erzählung über Wirkung und Entstehung von Erzählungen
Der Film Candyman hinterfragt immer wieder die erzählerische Glaubwürdigkeit von Skandalgeschichten. Gleichzeitig ist er eine Warnung vor dem naiven Konsum mündlich wie schriftlich verbreiteten Tratsches, der sich um vermeintliche Verbrechen dreht. Schon in Clive Barkers Kurzgeschichte weist der Professor Philip Purcell auf herablassend-spöttische Art Helen darauf hin, dass es bei all den haarsträubenden Mördergeschichten, die ihr erzählt wurden, nie einen direkten Zeugen gab. Immer wurde auf eine Bekannte, die Schwester der Nachbarin oder ähnliches verwiesen, die Tageszeitungen berichteten nicht über die angeblichen Gräueltaten und die Polizei hat auch nie entsprechenden Meldungen erhalten. Aber die Erzählenden betonen stets die Wahrhaftigkeit ihrer Geschichten, obwohl sie selbst keinerlei Beweise dafür haben und nie vor Ort waren.
Im vorangegangenen Kapitel ging es unter anderem um die Entstehungslegende des Candyman. Tatsächlich gibt es im Film aber auch für diese Legende keinerlei Quelle, die auf einen wahren Kern der Geschichte hinweist. Sie ist im Film nur eine von insgesamt 4 unterschiedlichen Geschichten zum Candyman. Keine dieser Geschichten kann mit Belegen untermauert werden, für keine der Geschichten kann ein Zeuge genannt werden. Helen bekommt diese Geschichten erzählt, doch Beweise für ihren Wahrheitsgehalt bleiben aus.
Die erste Geschichte über den Candyman hört Helen bei der wissenschaftlichen Befragung einer jungen Frau (wahrscheinlich einer Studentin), die in einer WG lebt. | Diese Geschichte handelt von der jungen Claire, die als Babysitterin auf das Kind von Bekannten aufpassen soll. Obwohl sie bereits eine feste Beziehung führt, lädt sie den rebellischen Billy in die Wohnung ein, um ihn zu verführen. Neckend erzählt sie ihm von der Gruselgeschichte um den Candyman, der erscheinen soll, sobald man in den Spiegel schaut und fünfmal seinen Namen sagt. Billy sagt den Namen nur viermal. Clara, inzwischen bis auf den BH ausgezogen, schickt Billy daraufhin raus, weil sie noch eine Überraschung für ihn hätte. Als dieser den Raum verlässt, sagt sie ein fünftes Mal „Candyman“ in den Spiegel.
Selbiger erscheint und bringt Clara mit seiner Hakenhand um. Das Baby findet man am nächsten Morgen ebenfalls ermordet im Haus. Billy überlebt, aber sein Haar soll vor Schreck ergraut sein. Die Studentin betont anfangs, dass diese Geschichte – obwohl sie so schauerlich klingt – wirklich wahr ist. Sie hätte die Geschichte von dem Freund ihrer Mitbewohnerin gehört. |
Die zweite Geschichte erzählen die zwei an der Universität beschäftigten afro-amerikanischen Reinigungskräfte Kitty und Henrietta. | Laut den beiden Frauen hat sich diese Geschichte in Cabrini-Green zugetragen. Dort kenne man Erzählungen über den Candyman, der nachts eine Frau in ihrer Wohnung umgebracht hätte. Die Putzfrau Kitty erinnere sich zwar nicht mehr mit Gewissheit an den Namen der Ermordeten, glaubt jedoch, dass ihr Name Ruthie sei. Diese Ruthie habe nachts ein merkwürdiges Rumpeln und Krachen an der Wand gehört, als würde jemand versuchen, aus dem Nebenraum durchzubrechen. Sie habe mehrmals die Polizei angerufen, doch diese hätte einfach nicht reagiert. Als die Polizei dann irgendwann doch noch bei der Wohnung auftauchte, sei es längst zu spät gewesen: Der Candyman hatte die Frau mit einem Haken aufgeschlitzt. |
Die dritte Geschichte erzählt Professor Philip Purcell, ein Freund von Helens Lebensgefährten Trevor | Dies ist die bereits erwähnte Entstehungsgeschichte des Candyman: des jungen Künstlers, der die Tochter eines reichen Mannes schwängert, woraufhin deren Vater seine Ermordung befiehlt. Purcell betont bei der Geschichte insbesondere die Herkunft des Candyman, dessen Vater ursprünglich ein Sklave war, aber nach dem amerikanischen Bürgerkrieg zu erheblichen Reichtum gelangte und so seinem Sohn die beste Bildung ermöglichen konnte. So konnte sein Sohn auch in den gehobenen Kreisen des Bürgertums verkehren. |
Die vierte und letzte Geschichte wird Helen von dem Jungen Jake erzählt, der in Cabrini-Green lebt. | Jake erzählt Helen davon, dass ein geistig Behinderter vom Candyman in einer öffentlichen Toilette ermordet worden ist. Er hätte dort ein blutiges Schlachtfeld angerichtet. Den abgeschnittenen Penis des Jungen hätte man später in einer Kloschüssel gefunden. Diese Geschichte hätte er von seinem Freund Charly. Der erste Zeuge, der den Jungen entdeckte, hätte vor Schreck schneeweiße Haare bekommen. (das ist übrigens die einzige dieser vier Geschichten, die auch in der literarischen Vorlage auftaucht) |
Im Grunde verraten diese Geschichten mehr über die Erzählenden als über den Candyman selbst:
- Die junge Studentin, die wahrscheinlich auf Geldgründen noch in einer WG leben muss, erzählt die Geschichte einer ebenfalls jungen Frau, die nebenher als Babysitterin Geld verdienen muss. Ihre Vorliebe für junge wilde Rebellen und ihre Untreue wird ihr zum Verhängnis. Der Candyman erscheint hier ortsunabhängig durch den Spiegel, in dem das Opfer sich zuvor noch selbst gesehen hat.
- Die schwarzen Putzfrauen als Vertreterinnen der afro-amerikanischen Unterschicht verlagern die Geschichte nach Cabrini-Green, wo überwiegend Menschen mit afrikanischen und italienischen Wurzeln leben. Die Polizei weigert sich in dieser Geschichte, für die betroffene Frau nach dem Rechten zu sehen. Der Candyman lauert hier als aggressiver Täter direkt im selben Wohnkomplex. Der Junge Jake vermutet den Candyman in einer öffentlichen Toilette in seinem Viertel, in deren Nähe eine kriminelle Gang ihr Unwesen treibt.
- Der weiße Professor Philip Purcell als Vertreter des wohlhabenden Bildungsbürgertums erzählt hingegen die Geschichte eines Candyman, der trotz seiner afrikanischen Herkunft in den Staaten eine gute Bildung erhalten hat und eine Affäre mit einer Weißen beginnt. Dies wird von dem konservativen weißen Bürgertum vereitelt, der Künstler grausam umgebracht. In Purcells Geschichte tritt der Candyman als Schwarzer auf, der eigentlich den sozialen Aufstieg hätte schaffen müssen. Schließlich wird der Ermordete zum Rächer, der am Ort seiner Unterdrückung die Anwohner terrorisiert.
All diese Geschichten haben bis auf den Candyman und Elemente extremer Grausamkeit nichts gemeinsam. Sie spiegeln im Grunde nur die Ängste der Erzählenden: Die mit sexuellen Beziehungen zu rebellischen Männern verbundene Gefahr und gesellschaftliche Ächtung bei der Studentin, die Angst vor Gewalt im eigenen Wohnviertel und ein Misstrauen gegenüber der Polizei bei der schwarzen Unterschicht Cabrini-Greens, die Furcht des weißen Bildungsbürgers, dass sich die Wut der unterdrückten afroamerikanischen Bevölkerung irgendwann aggressiv entlädt.
In den ersten Erzählungen, die Helen über den Candyman zu hören bekommt, unterscheiden sich Opfer und deren Umfeld erheblich.
Tatsächlich ist niemanden von ihnen der Candyman jemals erschienen. Der Candyman ist in all diesen Geschichten nur Projektionsfläche für Ängste, die vage mit dem Stereotyp des gewalttätigen schwarzen Mannes zusammenhängen. Und es ist überaus bezeichnend, dass er die erste Hälfte des Filmes niemals in Erscheinung tritt. Selbst als Helen betrunken und voller Zuversicht seinen Namen in den Spiegel ruft, erscheint er nicht. Erst nachdem Helen diverse Ängste entwickelt hat, glaubt auch sie an den Candyman und meint, ihn zu sehen. Doch im gesamten Verlauf des Filmes wird es außer Helen niemanden geben, der ihre Begegnung mit dem Candyman bestätigen kann. Selbst die Hauptfigur hat letztlich keine Zeugen für ihre Begegnung mit dem Candyman.
Es ist erstaunlich, wie sehr der Film dem Zuschauer diese Deutungsmöglichkeit praktisch unter die Nase reibt: Denn schon bei seinem allerersten Auftritt verrät der Candyman, dass er eigentlich nur durch die Ängste entsteht, die sich in unheilvollen Gerüchten und unheimlichen Graffitis widerspiegeln. Folgt man dieser Deutung, dann gibt es keinen real existierenden Candyman. Doch dadurch, dass sich die Menschen ihre irrationale Angst und Sensationslust nicht eingestehen wollen, bleibt die Legende um den Candyman weiterhin bestehen:
Ich bin die Schrift an der Wand.
Das Flüstern im gläsernen Raum.
Ohne diese Dinge bin ich Nichts!
Das Faszinierende an dem Film Candyman ist, dass er dem Zuschauer keine platte Auflösung liefert. Er lässt mehrere Deutungen zu. Man kann ihn als klassischen Horrorfilm deuten, indem der Rachegeist eines Ermordeten seine Kräfte aus der Furcht und Erinnerung der Menschen gewinnt. Aber ebenso gut lässt sich Candyman als Geschichte über das Geschichtenerzählen interpretieren. Jeder verknüpft die Figur des Candyman mit Ängsten, die für ihn persönlich relevant sind. Einzelne Elemente wie die Hakenhand bleiben gleich, aber hinsichtlich der grausamen Details erfindet jeder noch etwas dazu, was in den anderen Geschichten nicht aufgetaucht ist.
Grundbedingung für diese Deutung ist aber, dass wir den Eindrücken der Hauptfigur Helen misstrauen. Wenn der Candyman wirklich nur Objekt von Geschichten ist, dann muss Helen zwangsläufig unter ziemlichen Wahnvorstellungen leiden. Aber auch diese Interpretation erlaubt der Film.
Themenkomplex 3: Candyman als psychologischer Horror über weibliche Machtlosigkeit
Zu Beginn des Films wird Helen als selbstbewusste junge Frau charakterisiert, die von Skepsis und akademischem Ehrgeiz geprägt ist. Sie nimmt die Erzählungen über den Candyman konzentriert mit dem Tonbandgerät auf, doch wenn sie die Texte später in den Computer eingibt, wirkt sie amüsiert. Bei ihren Recherchen zu den Morden in Cabrini-Green spiegelt sich in ihrer Mimik neugierige Faszination wider, keineswegs aber Angst. Im Gespräch mit ihrer Freundin Bernadette macht sie sich sogar über einige dieser Geschichten lustig. Für Helen ist das ganze Thema zunächst nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Forschungsarbeit zur Urbanen Legendenbildung interessant. Und solange sie die Rolle der selbstbewussten, distanziert kritischen Wissenschaftlerin einnehmen kann, solange tritt der Candyman auch nicht in Erscheinung. Denn wenn der Candyman nur Projektionsfläche für diffuse Ängste ist, kann er das Denken der Menschen auch nur bestimmen, wenn sie diesen Ängsten nachgeben.
Im Verlaufe des Films wird Helens Selbstverständnis und ihr Selbstbewusstsein jedoch schrittweise untergraben. Und erst nach diversen Rückschlägen erscheint ihr die Gestalt des Candyman. Es beginnt mit dem vagen Gefühl der Austauschbarkeit, als Helen eifersüchtig bemerkt, wie ihr Partner Trevor von einer jungen und attraktiven Studentin angeschmachtet wird. Relativ gut steckt Helen weg, dass die Trennung zwischen den Klassen möglicherweise doch nicht so scharf ist, wie sie bislang geglaubt hat: Der Querschnitt ihrer eigenen Wohnung entspricht genau dem vieler Standardwohnungen des heruntergekommenen Cabrini-Green. Vermutlich war sie sogar früher selbst Teil dieses Wohnbauprojektes und wurde erst nachträglich für wohlhabendere Mieter modernisiert. Im Grunde wäre Helen damit selbst Anwohnerin jenes Viertels, deren Bürgern sie bislang meist mit skeptischer Neugier gegenübergetreten ist.
Schließlich wird bei einem Abendessen mit Trevor, Professor Purcell und ihrer Freundin Bernadette sogar ihre wissenschaftliche Kompetenz angezweifelt. Der Professor deutet an, dass ihre Forschungsarbeiten ein alter Hut sind, da er selbst bereits vor zehn Jahren über den Candyman geschrieben hat. Als er erfährt, dass Helen und Bernadette seine Forschungen nicht einmal kennen, bezeichnet er beide als inkompetent. Und schließlich wird Helens bei ihren Nachforschungen in Cabrini-Green sogar von einer Gang überfallen und bewusstlos geschlagen.
Ihre Attraktivität als Partnerin, ihre berufliche Kompetenz, ihr Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit – all das wird im Laufe des Films von Männern in Zweifel gezogen oder direkt bedroht. Als sie dann auch noch brutal zusammengeschlagen wurde, erscheint ihr schließlich der Candyman.
Dass der Candyman Helen immer dann erscheint, bevor Verbrechen geschehen, die man ihr zuordnet, lässt durchaus den Schluss zu, dass eine geistig verwirrte Helen ihre eigenen Gewaltfantasien über diese Figur auslebt.
Auffällig ist, wie bei der Begegnung mit dem Candyman durch plötzliche Schnitte, die sphärische Musik von Philip Glass und Überblendungen an andere Handlungsorte eine Atmosphäre des Unwirklichen geschaffen wird.
Die Medienwissenschaftlerin Andrea Kuhn weist in ihrer Forschungsarbeit allerdings darauf hin, dass im späteren Verlauf des Filmes die Beziehung zwischen Helen und dem Candyman keineswegs ausschließlich negativ gezeichnet wird. Weichzeichner und Inszenierung erinnern vielmehr oft an die Darstellung romantischer Paare in Liebesfilmen. Kuhn deutet die Figur des Candyman als Fantasie Helens, in der sich deren Wunsch nach Macht widerspiegelt. Erst als Helen totale Machtlosigkeit erfahren hat, projiziert sie die Macht und Gewalt, die sie gern ausüben würde, auf die Figur des Candyman.2Vgl. Andrea Kuhn: „What’s the matter, Trevor? Scared of something?“ Representing the Monstrous-feminine in Candyman. http://webdoc.sub.gwdg.de/edoc/ia/eese/artic20/kuhn/kuhn.html Ihr Kampf gegen den Candyman stünde dann für den inneren Konflikt zwischen Machtrausch und Gewissen.
In dieser Deutung hätte tatsächlich Helen sämtliche Morde ab der zweiten Hälfte des Films begangen. Da sie sich ihre zerstörerische Wut nicht eingestehen will, ordnet ihr verwirrter Geist die Verbrechen nachträglich dem Candyman zu. Und diese Interpretation lässt sich auch nicht widerlegen: Als Zuschauer sieht man gegen Filmende zwar den Candyman Morde begehen, aber dies könnte ebenso gut die Darstellung von Helens Wahnvorstellungen sein. Denn letztlich gibt es niemanden, der diese Verbrechen des Candyman bezeugen könnte. Nur Helen selbst überlebt. Und wenn man davon ausgeht, dass sie psychisch schwer gestört ist, dann ist ihre Einschätzung der Dinge nicht gerade verlässlich.
Und während sie angesichts der Gräueltaten, die sie dem Candyman zuordnet, anfangs noch entsetzt ist, beginnt Helen im letzten Viertel des Films, die Angst vor ihr und die Macht, die mit dem Candyman verbunden sind, bewusst zu nutzen und zu genießen. Als sie nach dem Mord an ihrer Freundin Bernadette in die Psychatrie festgesetzt wird, beschließt sie, den Candyman zu rufen, um ihre Freiheit wiederzuerlangen. Auch diese Szene lässt sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausdeuten: Ihr behandelnder Therapheut wird nach dieser Anrufung vom Candyman getötet. Da es sonst keine anwesenden Zeugen gibt, könnte Helen ihn im Wahn ermordet haben. Allerdings war sie mit Ledergurten an einen Rollstuhl gebunden. Wie also hätte sie sich allein befreien können? Der Film überlässt die Deutung dem Zuschauer. Als Helen dann jedoch Trevor und seine neue Geliebte in ihrer früheren Wohnung stellt, scheint die Furcht der deutlich jüngeren Konkurrentin Helen mit einer sadistischen Freude zu erfüllen. Helen nähert sich dem Mythos des Candyman immer stärker an. Am Ende des Films erscheint sie dann selbst als beschwörbares Wesen, das aus dem Spiegel heraus den Tod bringt.
Es ist durchaus möglich, dies alles als gewaltvolle Machtfantasie einer unterdrückten Frau zu verstehen, die um ihr Leben fürchten muss, wenn sie allein in Cabrini-Green unterwegs ist, die von ihren männlichen Kollegen für ihre Forschungsarbeit belächelt wird und deren Mann sich vermutlich schon längere Zeit nach einer (noch) Jüngeren umschaut. Wenn sie trotz ihres wissenschaftlichen Ehrgeizes nur die Aussicht hat, die unbekannte Frau eines deutlich erfolgreicheren Dozenten zu bleiben, dann erscheint das Schicksal, das ihr der Candyman anbietet, vielleicht gar nicht so unattraktiv. Statt als sich den gesellschaftlichen Konventionen anpassende Frau unbekannt zu bleiben, kann sie wie der Candyman durch Angst und Schrecken in Erinnerung bleiben:
Ich bin eine Legende! Glaube mir, es ist ein wahrhaft erhebendes Gefühl, wenn die Menschen auf der Straße deinen Namen flüsternd erwähnen. Und es ist berauschend, in ihren Träumen zu leben.
Was Candyman auszeichnet ist, dass er im Gegensatz zu so vielen anderen Horrorfilmen eine detailliert aufgeschlüsselte Auflösung verweigert. Es gibt keine verlässliche Instanz, die uns am Ende erklärt, dass Helen eigentlich nur eine schizoide Mörderin ist. Aber es gibt außer Helen auch keine überlebenden Zeugen, die den Candyman gesehen haben.
Bernhard Roses Candyman ist insofern eine angenehme Ausnahme vom Horror-Allerlei, dass er seine Zuschauer für intelligent genug hält, eine eigene Deutung zu finden, statt ihnen haarklein alles vorzugeben. Ob man Candyman als Psychohorror über eine dem Wahnsinn verfallende Frau wertet oder als sozialkritischen Slasher über einen Rachegeist (oder er vielleicht sogar beides vereint), muss jeder Zuschauer für sich selbst entscheiden. Und dass Helen nach ihrer Beerdigung noch einmal als mordlüsterner Geist erscheint, weist ja durchaus auf Übernatürliches hin. Doch trotz des in Social-Media-Diskussionen oft vorherrschenden Schwarz-Weiß gibt es in diesem Fall kein klares Richtig oder Falsch.
Nachtrag: Ein Film über Urban Legends, der selbst zur Urban Legend wurde
Der Film Candyman zeigt, wie Menschen voller Sensationslust Geschichten immer wieder abwandeln und neue grausame Details hinzudichten. Und letztlich ist Candyman – der Film über eine urbane Legende – selbst zu einer Urban Legend geworden. Der Film zeigt mehrmals, wie Leute Geschichten als wahr darstellen, obwohl sie keinerlei Beweise dafür haben, es keine Zeugen gibt und sie nur vage auf Bekannte oder Freunde um zwei Ecken als Quellen verweisen können.
Leider verhalten sich nicht nur die Personen in Candyman so, sondern auch zahlreiche Menschen in unserer wirklichen Welt. Mich hat es regelrecht wütend gemacht, wie viele Internetseiten Blödsinn über einen „tatsächlichen Candyman“ oder die „Legende hinter dem Film“ verbreiten. Zahlreiche deutsche Blogs und Webseiten erzählen, dass der Film Candyman auf einer alten Legende basiere. Und viele Leute glauben das. Inzwischen findet man in Filmkritiken sogar Kommentare dazu, wie geschickt der Film diese Legende aufgreift.
Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Eine Legende, die dem im Film dargestellten Candyman entspricht, gab es vor der Kurzgeschichte Clive Barkers nicht! Deswegen kann auch keine der entsprechenden Websites irgendwelche Quellen oder wissenschaftlichen Studien dazu nennen. So wie die Erzählenden im Film auf namenlose Bekannte von Freunden verweisen müssen, können die Autoren solcher Artikel auch nur auf „amerikanische Studien“ oder „alte Legenden“ verweisen. Aber sie können weder den Namen solcher Studien nennen noch auf Aufzeichnungen zur angeblich ach-so-alten Candyman-Legende verweisen, die vor den 90er-Jahren entstanden sind. Was schlicht daran liegt, dass solche Aufzeichnungen nicht existieren.
Wer an dem YouTube-Alters-Check vorbeikommt, kann hier einen Ausschnitt aus dem Sequel Candyman 2 sehen, das die Entstehungsgeschichte des Candyman detaillierter darstellt. In ihrer Unlust, zu recherchieren, behaupten einige Blogger einfach, dieser Szene würde eine historische Legende zugrundeliegen.
Die Erzählung über den unglücklichen Malers, der für seine Liebe zu einer weißen Frau von einem Lynchmob getötet wurde, haben manche Schreiber für bare Münze genommen. Tatsächlich greift der Film damit aber keine alte Legende auf. Vielmehr hat sich der Candyman-Darsteller Tony Todd diese Legende als Hintergrundgeschichte für seine Filmfigur ausgedacht. Das lässt sich auch einem Bericht des Horrorfilm-Magazins Fangoria entnehmen, der bereits 1992 veröffentlicht wurde.3Vgl. Daniel Schweiger: „Razors in the ‚Candy'“. Fangoria. No. 117. Park Avenue South, New York City: 1992. Seiten 24–28. Hier kann man die archivierte Onlinetextversion dieses Magazins überprüfen. https://archive.org/stream/Fangoria_117_1992_Dust_Devil_HQS_c2c/Fangoria_117_1992_Dust_Devil_HQS_c2c_djvu.txt. Misstrauische Leser müssen versuchen, noch an ein Original-Exemplar zu kommen. Die meisten Artikel, die von einem „echten Candyman“ schreiben, haben ungeprüft die Filmerklärung übernommen und lediglich ein paar frei erfundene Grausamkeiten hinzugedichtet. Und dann hat – wie im Internet üblich – der eine Blogger vom anderen abgeschrieben. Aber das passiert eben, wenn Blogger und Influencer ihre Wahrheitsliebe anstandslos für ein paar Klicks opfern.
Candyman: Folgende Legenden greift der Film auf
Es gab zwar keinen real existierenden Candyman, aber der Film wirkt hinsichtlich der urbanen Legenden unter anderem deswegen so glaubhaft, weil er die Muster bereits bestehender Legenden aufgreift. Regisseur Bernhard Rose hat die Merkmale gleich mehrerer Urban Legends in dem Film verarbeitet. In seinem Buch „Film, Folklore and Urban Legend“ arbeitet Doktor Mikel J. Koven heraus, welche urbanen Legenden sich in Candyman wiedererkennen lassen:
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Die Legende um Bloody Mary: Einer amerikanischen Legende zufolge erscheint der Geist eines Mädchens mit blutiger Stirnwunde, wenn man mehrmals vor einem Spiegel ihren Namen ruft. Bei dem Geist soll es sich um die Seele eines im 17. Jahrhundert verstorbenen Mädchens namens Mary handeln. In den meisten Erzählungen ist ihr Name Mary Worth, aber in einigen heißt sie auch Mary Whales oder Mary Jane. Die Umstände ihres Todes variieren je nach Region, aber im Großteil der Geschichten wurde sie aus enttäuschter Liebe ermordet oder weil man ihr magische Hexenkräfte zusprach. Die Parallelen zum gewaltsam getöteten Candyman, der ebenfalls durch mehrmaliges Nennen seines Namens herbeigerufen werden kann, sind unübersehbar.
- Der Hakenmörder: Legenden um einen grausamen Killer, der seine Opfer mit einer scharfen Hakenhand tötet, sind in verschiedensten Ausformungen bereits seit der Nachkriegszeit in Amerika verbreitet und dürften eine weitere Inspirationsquelle für den Candyman gewesen sein.
Auch Erzählungen über Süßigkeiten, in denen Rasierklingen versteckt sind, Babysitter, denen das Kind wegstirbt, und Jungen, die in öffentlichen Toiletten überfallen und verstümmelt werden, sind laut Koven Stoff zahlreicher moderner Legenden, die sich zum Teil schon Schulkinder erzählen.4Vgl. Mikel J. Koven: „Film, Folklore and Urban Legend“. Lanham, Maryland – Toronto – Plymouth: 2008. S. 140 bis 145. Und all diese Legenden greift Candyman auf.
Wenn der Film also so wirkt, als könnte er auf einer alten Legende beruhen, dann liegt das nicht daran, dass es zuvor schon Erzählungen über einen grausamen Candyman gab. Es liegt vielmehr daran, dass der Film geschickt die Merkmale diverser Legenden kombiniert, die bis heute viele Menschen in schauerlicher Lust nur zu gerne glauben möchten.
Literaturverzeichnis
Barker, Clive: „Das Verbotene“ in: Die Bücher des Blutes IV–VI. Erftstadt: 2005. S. 279–344.
Koven, Mikel J.: „Film, Folklore and Urban Legend„. Lanham, Maryland – Toronto – Plymouth: 2008.
Kuhn, Andrea: „What’s the matter, Trevor? Scared of something?“ Representing the Monstrous-feminine in Candyman. http://webdoc.sub.gwdg.de/edoc/ia/eese/artic20/kuhn/kuhn.html (abgerufen am 15.11.2020)
Schweiger, Daniel: „Razors in the ‚Candy'“. Fangoria. No. 117. Park Avenue South, New York City: 1992. Seiten 24–28. Hier kann man die archivierte Onlinetextversion dieses Magazins überprüfen. https://archive.org/stream/Fangoria_117_1992_Dust_Devil_HQS_c2c/Fangoria_117_1992_Dust_Devil_HQS_c2c_djvu.txt.
Bildnachweise
Titelbild: Ausschnitt eines Filmplakats zu Candyman © bei TriStar Pictures und anderen relevanten Produktionsstudios und Distributoren. Nur zur redaktionellen Nutzung.
- 1. Abbildung: Cover zu Clive Barkers „Die Bücher des Blutes IV–VI“. 2016er-Ausgabe des Nikol Verlags.
- 2. Abbildung: Flickr: Cabrini-Green von edwardhblake CC by 2.0 Bestimmte Rechte vorbehalten.
- 3. Abbildung: Zeichnung vom Candyman von lil.miss.devil CC by-NC-ND Bestimmte Rechte vorbehalten.
- 4. Abbildung: Foto eines Badezimmers in Cabrini-Green/Chicago. Bild eingebettet über Bildlink auf chigagoreader.com.
- 5. Abbildung: Flickr: Goodbye Cabrini Green Apartments, Chicago von Appartment Therapy CC by-SA 2.0 Bestimmte Rechte vorbehalten.
- 6. Abbildung: Filmszene aus Bernard Roses „Candyman’s Fluch“ © bei TriStar Pictures und anderen relevanten Produktionsstudios und Distributoren. Nur zur redaktionellen Nutzung. Minute 72:12.
- 7. Abbildung: Bild eines kostümierten Mädchens erstellt von kalhh auf Pixabay
Wirklich schöner Artikel und durchaus interessant wie sehr sich der Film dann doch von der Vorlage unterscheidet. Sowohl die Ausdeutung unter feministischen Aspekten als auch die thematischen Aspekte der Sozialschicht fand ich immer schon sehr interessant und Cabrini Green als Standort für den Film zu wählen war ein ziemlicher Geniestreich. Freut mich, dass dieser Artikel auch die sozialpolitischen Hintergründe davon beleuchtet, gerade im deutschsprachigen Raum dürfte eher unbekannt sein was es damit eigentlich auf sich hat. Ich hoffe doch sehr, dass viele deutsche Horrorfans den Artikel lesen, denn der hat mehr Diskussionen und Analysen des Inhalts dicke verdient.
Ich freu mich, damit kann ich meinen Filmaffinen Freunden einfach diesen Artikel schicken, wenn sie sich wundern sollten warum ich Candyman so mag (wobei die meisten Filmaffinen Freunde mir vermutlich einfach zustimmen würden =D).
Ein vollkommen unterschätzter Film! Nicht nur von den drögen Schnetzel-Fans unterschätzt, sondern bis heute auch von vielen Kritikern. Leider war dann bereits die erste Fortsetzung schon durchwachsen. Aber im Horrorbereich ist man kaum anderes gewohnt.🙁 Wer also nicht dröge jedes Melken von Horror-Franchises beklatscht, solang nur der Lieblingskiller darin herumturnt, der dürfte von den Sequels sehr enttäuscht sein. Naja, bald kommt ja das nächste Sequel. Bei dem warte ich dann lieber Deine Kritik ab, bevor ich Geld fürs Kinoticket ausgebe. 😉