Es ist nicht tot, was ewig liegt: Lovecrafts Ruinenstädte

Wüstenstadt bei Lovecraft

„Als ich mich der Stadt ohne Namen näherte, wusste ich, dass sie verflucht ist. Ich reiste im Mondschein durch ein ausgedörrtes und grässliches Tal, und in der Ferne sah ich die Stadt schaurig aus den Dünen ragen, so wie Leichenteile aus einem hastig geschaufelten Grab ragen mögen.“1Howard Phillips Lovecraft: „Stadt ohne Namen“, in. H.P. Lovecraft. Das Gesamtwerk. Band 1″, S. 250.

Diese  Zeilen entstammen der 1921 von Howard Phillips Lovecraft verfassten Kurzgeschichte „Stadt ohne Namen„. Der Schriftsteller macht mit wenigen Worten gleich zu Beginn deutlich, was die eigentliche Hauptatraktion seiner Geschichte ist: Nicht der leidgeplagte Erzähler, keine menschlicher Widersacher und auch keine tentakelbewehrte Alptraumgestalt aus Lovecrafts Horror-Universum: Nein, im Zentrum der Geschichte steht die Stadt selbst.

Immer wieder spielen alte Städte und abgeschiedene Dörfer eine zentrale Rolle in Lovecrafts Erzählungen. Die von ihm erdachte fiktive Stadt Arkham ist längst Bestandteil der Populärkultur. Zahlreiche andere Horrorautoren verweisen in ihren Geschichten auf dieses eigentlich frei erfundene Arkham, unter anderem Robert Bloch, August Derleth, Clark Ashton Smith oder im deutschsprachigen Raum Wolfgang Hohlbein. Und viele, die keine einzige Geschichte Lovecrafts gelesen haben, können zumindest den Namen R’lyeh einordnen: den Namen jener versunkenen Tempelstadt, in der der finstere Cthulhu auf sein Erwachen wartet.

Dieser erste Teil der Reihe „Architektur des Grauens. Städte im Werk Lovecrafts“ beleuchtet drei Ruinenstädte aus Lovecrafts Frühwerk: Die eingangs erwähnte Stadt ohne Namen, die archaische Millionenstadt Sarnath und das von Menschen zerstörte Ib.

Vielen von Lovecrafts Ruinenstädten ist gemein, dass ihr immenses Alter und häufig auch die zivilisatorische Überlegenheit ihrer ehemaligen Bewohner eine Kontrastfläche bilden, vor der dem Leser die Vergänglichkeit und Bedeutungslosigkeit der jungen menschlichen Zivilisation bewusst werden soll.

Frau hat grauenvolle Erkenntnis
Der Horror entsteht für die Helden in Lovecrafts Geschichten nicht allein durch eine äußere Lebensbedrohung. Vielmehr nagt an ihnen die Erkenntnis, dass die Menschheit angesichts deutlich älterer und mächtigerer kosmischer Kräfte eigentlich bedeutungslos ist.

Die menschliche Kultur ist endlich und dem Untergang geweiht: Lovecrafts Weltsicht

Der 1890 geborene Lovecraft wuchs in einer Zeit auf, in der größtenteils ein optimistischer Fortschrittsglaube vorherrschte: Der Mensch würde sich die Welt mittels neuer Technologien ganz nach seinen Wünschen formen. Genau so, wie es laut Altem Testament seine göttlich legitimierte Bestimmung sei: „[F]üllt die Erde und unterwerft sie und waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen!2Genesis 1,28.

Gleichzeitig war das frühe 20. Jahrhundert aber auch die Geburtszeit der Quantenphysik und der Relativitätstheorie, die als gesichert angesehene Erkenntnisse der Naturwissenschaften nun infragestellten. Und auch der Atheismus erfuhr neuen Aufwind und bemühte sich, dem Menschen sein religiöses Selbstverständnis als „Krone der Schöpfung“ aus dem Kopf zu schlagen. Etwas, das der Atheist Lovecraft übrigens auch selbst versuchte: Nicht nur in seinen Horror-Erzählungen, sondern auch in zahlreichen Briefen und Essays.

Lovecrafts Weltsicht, die sich auch in seinen Horrorgeschichten widerspiegelt, steht im diametralen Gegensatz zu einem positiven Geschichtsbild. Das Grauen wurzelt in vielen seiner Erzählungen darin, dass die Protagonisten sich der Bedeutungslosigkeit  und Verletztlichkeit der menschlichen Kultur bewusst werden. Doch wäre das natürlich wenig angsteinflössend, wenn es bei einer bloßen theoretischen Betrachtung bliebe. Nein, die wagemutigen Forscher in Lovecrafts Geschichten werden selbst mit kosmischen Kräften konfrontiert, die deutlich älter und mächtiger als die Menschen sind. Kräfte, denen sie schutzlos ausgeliefert sind!

In seine Erzählungen webt Lovecraft immer wieder Hinweise auf okkulte Bücher ein, in denen man mehr über die Großen Alten erfahren kann: uralte Außerirdische von gottgleicher Macht. Eines der populärsten dieser fiktiven Bücher ist das Necronomicon – eine Übersetzung der Schriften des Arabers Abdul Alhazred. Jener Alhazred wird das erste Mal in „Stadt ohne Namen“ erwähnt.

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Exkurs: Der Cthulhu-Mythos: Kosmische Schrecken aus der Vergangenheit

Als Sinnbild für solch kosmischen Kräfte dienen Lovecraft die sogenannten „Großen Alten„. Diese besuchten die Erde vor Millionen, teils Milliarden von Jahren. Und einige von ihnen – wie der großte Cthulhu – leben in einer Art Dämmerzustand im Verborgenen noch immer auf der Erde. Ein Erwachen der Großen Alten würde das Ende der menschlichen Vorherrschaft bedeuten. Diese Wesenheiten handeln jenseits aller Moral, und angesichts ihrer ewigen Existenz verblasst die menschliche Kultur zur vollkommenen Bedeutungslosigkeit.

Der Große Alte Cthulhu
Die Großen Alten sind Figuren, die durch ihre Machfülle und ihr ewiges Fortbestehen die Schwäche der kurzlebigen Menschheit kontrastieren.

Indem er in seinen Geschichten immer wieder Verweise auf die Großen Alten einwebt, die Existenz geheimer Kulte und verborgener Tempelanlagen andeutet, wirkt es so, als würde Lovecraft sich auf echte Überlieferungen beziehen. Dass viele seiner Schriftstellerfreunde Versatzstücke dieser Schein-Mythologie in ihren eigenen Geschichten übernehmen, verstärkt den Eindruck eines okkulten Systems, das auch vor und unabhängig von Lovecraft existierte. Erst Jahre nach seinem Tod etabliert Lovecrafts Freund August Derleth die Bezeichnung „Cthulhu-Mythos“ für diese Mythologie. Lovecraft selbst hat Cthulhu allerdings nie eine Vorrangstellung vor denn anderen Großen Alten zugeordnet. Dennoch wird sein literarisches Vermächtnis bis heute mit diesem Begriff assoziiert.

Die mit dem Cthulhu-Mythos verwobenen Kreaturen, Orte und Charaktere werden auch Jahrzehnte nach Lovecrafts Tod aufgegriffen: in Romanen und Kurzgeschichten ebenso wie in Filmen und Videospielen. Der Cthulhu-Mythos ist daher längst so umfassend, dass ich in an dieser Stelle nur oberflächlich behandeln kann.

Wer sich ausführlicher mit ihm beschäftigen möchte, findet unter nachfolgendem Link eine Darstellung der wichtigsten Geschichten zum Cthulhu-Mythos sowie weiterführende Informationen zu den Kreaturen und Schauplätzen im Werk Lovecrafts.

Auch wenn die „Großen Alten“ in neueren Adaptionen zu oft auf ihr monströses Äußeres und ihre physische Größe reduziert werden, beruhte der mit ihnen verbundene Schrecken bei Lovecraft ursprünglich darauf, dass sie die besondere Stellung des Menschen im Kosmos negierten. Der Mensch ist weder zivilisatorisch die fortschrittlichste Spezies noch haben ihm irgendwelche Götter eine besondere Rolle zugedacht. Und dieser Grundgedanke prägt auch deutlich Lovecrafts Darstellung seiner Ruinenstädte.

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Sarnath, Ib und die Namenlose Stadt: Die Ruinenstädte bei Lovecraft

Was sämtlichen Ruinenstädten bei Lovecraft gemeinsam ist, ist ihr schier unermessliches Alter. Natürlich liegt es nahe, dass eine Ruine ihre Blütezeit längst hinter sich hat, und einige Zeit vergangen sein muss, damit eine Stadt überhaupt erste Verfallserscheinungen zeigt. Doch Lovecrafts Städte wurden nicht etwa im Mittelalter, der Antike oder in der Bronzezeit gegründet. Sie entstammen einer vorsintflutlichen Zeit, zu der es nicht die geringsten schriftlichen Aufzeichnungen gibt und in der die menschliche Kultur noch in ihren Kinderschuhen steckte – oder die Menschheit nicht einmal existierte.

Für seine Geschichten hat Lovecraft sich zahlreiche fiktive Städte und Orte erdacht. Doch während seine neuzeitlichen Siedlungen meist im Neu-England an der US-amerikanischen Ostküste liegen, ruhen die Ruinenstädte in seinen Erzählungen im ewigen Eis der Antarktis, in den dunklen Wassermassen des Pazifiks oder unter dem äonenalten Staub der arabischen Wüste.

 

Begraben unter Staub: Die Stadt ohne Namen

Lovecrafts Ruinenstadt: Stadt ohne Namen

„Die zeitzerfressenen Steine dieser altersbleichen Überlebenden der Sintflut, dieser Ururahnin der ältesten Pyramiden, verhießen Furcht – und eine unsichtbare Aura stieß mich ab und gebot mir, vor diesen uralten und unheildrohenden Geheimnissen zu fliehen, die kein Mensch je erschauen sollte und die auch kein Mensch außer mir jemals zu erschauen wagte.3H. P. Lovecraft: „Stadt ohne Namen“, in. „H.P. Lovecraft. Das Gesamtwerk. Band 1″, S. 250.

Zu Beginn der Geschichte „Stadt ohne Namen“ erfahren wir wenig Konkretes über die Stadt. Vielmehr erzeugt über den angstvollen Bericht des Erzählers eine Atmossphäre des Bedrohlichen. Was aber bereits in den ersten Zeilen immer wieder angedeutet wird, ist das immense Alter der im Sand begrabenen namenlosen Stadt. Älter als die ältesten Pyramiden soll sie sein. Und später vermutet der Erzähler, dass die Namenlose Stadt wohl bereits verfallen war, noch bevor die Menschen Babylon und Memphis erbaut hatten. Die Blütezeit dieser Stadt läge dann weit vor dem 3. Jahrtausend vor Christus. Durch den etwas altertümlichen Sprachduktus seines Erzählers verstärkt Lovecraft das Gefühl, hier mehr über eine Anlage aus tiefster Vergangenheit zu erfahren.

Ebenfalls angedeutet wird, dass trotz der verstrichenen Zeit irgendeine unheilige Kraft in dieser Stadt weiterlebt. So wird die Stadt selbst als „Überlebende“ bezeichnet. Und beim ersten Anblick der Ruinenstadt erinnert sich der Erzähler unmittelbar an eine Gedichtzeile des berüchtigten Arabers Abdul Alhazred: „Es ist nicht tot, was ewig liegt„.

 

Lage, Geschichte und Architektur der Stadt ohne Namen

Stadt ohne Namen verborgen im Sand der arabischen Wüste

Über die genaue Lage der Stadt ohne Namen erfährt der Leser lediglich, dass sie irgendwo in der arabischen Wüste liegt. Auch die Beschreibung der Architektur bleibt vage. Lovecraft konzentriert sich ganz auf die Gefühlswelt seines Protagonisten, die auf den Leser überspringen soll: „Das sagenhafte Alter des Ortes war unerträglich, und ich sehnte mich danach, ein Schriftzeichen oder ein künstlerisches Werk zu finden, das bewies, dass diese Stadt tatsächlich von Menschenhand erbaut worden war, denn die Ruinen wiesen gewisse Größenverhältnisse und Ausmaße auf, die mir nicht behagten.“4H. P. Lovecraft: „Stadt ohne Namen“, in. „H.P. Lovecraft. Das Gesamtwerk. Band 1″, S. 252.

Interessant ist an dieser Stelle nicht nur die Betonung der gigantischen Ausmaße, sondern auch der Verdacht, dass eine nichtmenschliche Spezies diese Stadt erbaut haben könnte. Verknüpft man diese beiden Aspekte, dann liegt die Vermutung nahe, dass Jahrtausende vor den ersten menschlichen Städten fremdartige Wesen bereits Bauten von so beeindruckender Größe errichten konnten, dass sie sämtliche späteren Bauwerke der Menschen in den Schatten stellten. Tatsächlich wirkt es zunächst wie eine Bestätigung dieser Angst, als der Erzähler einen in den Fels gehauenen Zugang freilegt und tiefer in eine Tempelanlage eindringt. Denn dort entdeckt er die mumifizierten Leichen von reptilienartigen Kreaturen mit krokodilähnlichem Kiefer, aber feingliedrigen Händen, mit denen sie problemlos Werkzeug oder Kunstgegenstände hätten anfertigen können.

Diese Wesen wurden nicht nur in prächtigen Gewändern beigesetzt, sondern die Grabkammern enthalten auch Beilagen aus geschmiedetem Metall und poliertem Glas. Der Protagonist redet sich zunächst ein, dass diese Wesen nur eine kultische Bedeutung für die eigentlich menschlichen Erbauer gehabt hätten – obwohl die Deckenhöhe der Gänge sich eher für reptilienhaftes Kriechen eignet als für den aufrechten Gang. Die Reliefs an den Wänden erzählen allerdings die Geschichte einer reptiloiden vormenschlichen Hochkultur, die bereits vor der Teilung der Kontinente existierte. Vor mehreren Jahrtausenden setzte dann ein Degenerationsprozess ein: Dies fremdartige Volk war einem immer stärker werdendem körperlichen Verfall ausgesetzt, der zugleich mit einer gesteigerten Aggressivität einherging. Erst auf den letzten Reliefs sind Menschen zu erkennen: als Opfer für die blutigen Riten der Reptiloiden!

Die Untersuchungen des Erzählers werden durch einen urplötzlich aufkommenden gewaltigen Sturm je unterbrochen. Im Lärm eben dieses Sturm glaubt er „das schaurige Geifern und Knurren fremdzüngiger Bestien5H. P. Lovecraft: „Stadt ohne Namen“, in. „H.P. Lovecraft. Das Gesamtwerk. Band 1″, S. 268. zu hören und im Schatten der Tempelanlage erkennt er die kriechenden Reptilienwesen, bevor das metallische Tor der Anlage zufällt.

Säulen einer Wüstenruine im Sonnenuntergang

 

Stadt ohne Namen: Mit dieser Geschichte legte Lovecraft die Grundpfeiler seiner Kosmologie

In seiner Lovecraft-Biografie zeigt sich der Literaturwissenschaftler Sunand T. Joshi verwundert darüber, dass der Schriftsteller so an dieser Geschichte hing. Der Biograf selbst trifft ein hartes Urteil und bezeichnet sie als eine von Lovecrafts „schwächsten unheimlich-phantastischen Arbeiten“ und setzt nach: „kein Wunder, dass sie im Laufe der Jahre immer wieder von professionellen Zeitschriften abgelehnt wurde.6S.T. Joshi: „H.P. Lovecraft. Leben und Werk. Band 1: 18901924″. München/Berlin: 2017. S. 493

Unabhängig von solchen persönlichen Werturteilen dürfte die Bedeutung von „Stadt ohne Namen“ für Lovecrafts schriftstellerischen Werdegang allerdings immens gewesen sein. Denn Lovecraft prägt hier bereits viele Leitmotive und Ideen, die auch in seinen späteren Geschichten immer wieder auftauchen und die praktisch die Basis des Cthulhu-Mythos bilden.

Lovecraft will Schrecken erzeugen, indem er die kosmische Sonderstellung der Menschheit an sich hinterfragt. Das erreicht er in „Stadt ohne Namen“ über drei Mittel:

  • Das Spielen mit den zeitlichen Dimensionen: Lovecraft operiert mit Zeitmaßstäben jenseits der menschlichen Vorstellungskraft. Zudem stellt er die kulturhistorische Entwicklung auf dem Kopf: Denn die jüngere menschliche Kultur ist der deutlich älteren nichtmenschlichen unterlegen.
  • Architektonische Imposanz und Zivilisationsgrad der Ruinenstadt: Die schiere Größe der Bauanlagen stellt jede menschliche Baukunst in den Schatten. Gleichzeitig verstärkt die Betonung des Überdimensionierten das Gefühl, sich klein und unbedeutend zu fühlen.
  • Wiedererwachen der untergegangenen Kultur: Auf diesem Punkt gehe ich in den folgenden Abschnitten noch genauer ein. Ein zentrales Merkmal der Ruinenstädte bei Lovecraft ist, dass die Kultur ihrer nichtmenschlichen Erbauer nicht wirklich beendet ist. Anders als das untergegangene römische Reich ruhen die fremden Wesen nur in einer Art Dämmerzustand; die nichtmenschliche Kultur kann jederzeit wieder zu neuem Leben erwachen und die Vormachtstellung der Menschen bedrohen.

 

Die Hochkultur Sarnaths und das wiederauferstehende Ib

Lovecrafts Sarnath

„Es befindet sich im Lande Mnar ein gewaltiger stiller See, der von keinem Strom gespeist wird und dem kein Strom entfließt. 10.000 Jahre ist es her, dass sich an seinem Ufer die mächtige Stadt Sarnath erhob; doch Sarnath steht nicht mehr. Es wird erzählt, dass in den unvordenklichen Zeiten, als die Welt noch jung war und ehe noch die Menschen Sarnaths in das Land Mnar kamen, eine andere Stadt neben dem See stand, die graue Steinstadt Ib, die so alt war wie der See selbst und bevölkert von Wesen, deren Anblick nicht guttat. Überaus eigenartig und hässlich waren diese Wesen, wie es wohl die meisten Geschöpfe einer noch unvollständigen und roh erschaffenen Welt sind.“7Lovecraft, Howard Phillips: „Das Verderben, das über Sarnath kam„, in. „H.P. Lovecraft. Das Gesamtwerk. Band 1“, S. 99.

Die Geschichte „Das Verderben, das über Sarnath kam“ ist noch stärker als „Stadt ohne Namen“ von einem archaischen Erzählstil geprägt. Lovecraft bedient sich eines Sprachduktus der an alte Mythen und Sagenerzählungen erinnert. Alles klingt nach Altertum. So stand die Stadt Ib bereits neben dem See, als die Welt noch jung war. Schon in diesen ersten Zeilen zeigt sich erneut das typische Schema Lovecrafts: Die Menschenstadt Sarnath mag mehr als zehntausend Jahre alt sein, doch lange vorher, noch bevor die Menschen dieses Gebiet überhaupt kannten, hatten dort fremde Wesen die Steinstadt Ib errichtet.

Das Verderben Sarnaths: Alles Menschliche vergeht

Anders als in „Stadt ohne Namen“ wissen die Menschen Sarnaths mit Gewissheit von der Existens der fremdartigen Wesen in Ib. Lovecraft beschreibt sie als nebelgrüne Wesen mit schwammigen Lippen und hervortretenden Augen. Tatsächlich sind diese Kreaturen in dem nicht näher lokalisierten Land Mnar schon lange sesshaft, als die ersten Menschen sich am See niederlassen. Die Menschen spielen bei dem aufeinandertreffen der Kulturen jedoch keine besonders gute Rolle, sondern verhalten sich so, wie sich menschliche Siedler auch in unserer realen Welt nur allzu oft verhalten haben: mit Hass und Gewalt. Die Menschen fühlen sich von dem Äußeren der Wesen abgestoßen und lehnen auch deren kultische Handlungen ab, bei denen die Ibianer das riesige Steinbild einer Wasserechse – Abbild ihres Gottes Bokrug – anbeten. Mit Speeren und Bögen bewaffnet dringen die Menschen in Ib ein und erschlagen alle dort lebenden Wesen. Danach versenken die Angreifer die schwammigen Körper der fremden Kreaturen im See, um deren Anblick nicht länger ertragen zu müssen. Dass die Menschen in der Nähe des Sees auf seltene und kostbare Metalle gestoßen waren, bevor sie ihren Angriff begannen, wird zwar erwähnt, aber nicht als eigentlicher Grund des Gemetzels dargestellt. Dennoch weckt diese Tatsache heute Assoziationen zu Angriffskriegen, bei denen es ebenfalls um Rohstoffe ging, jedoch andere Gründe vorgeschoben wurden.

Die Monolithen der Stadt stürzen die Eroberer ebenfalls in den See; doch das Götzenbild Bokrugs bringen die Menschen als Zeichen ihres Sieges in die neugegründete Stadt Sarnath. Doch am nächsten Morgen fehlt von der Statue jede Spur. Im Tempel, in dem die Krieger sie aufgestellt hatten, findet man nur noch den angstgezeichneten Leichnam des städtischen Hohepriesters.

Zyklisches Geschichtsbild symbolisiert durch Uhr und antike Statue
In vielen Erzählungen Lovecrafts schimmert ein zyklisches Geschichtsbild durch: Die Gesellschaft entwickelt sich nicht fortwährend weiter, sondern einer Blütezeit folgt zwangsläufig eine Phase der Dekadenz. Und letztlich kommt es dann zum Untergang der vorherrschenden Kultur.

In den folgenden Jahren wächst und gedeiht Sarnath: Die Stadt treibt Handel mit den seltenen Erzen und setzt seine Tradition der militärischen Expansion fort: Nun allerdings mit einem besser ausgerüsteten und größeren Heer, mit dem Sarnath die Nachbarstädte erobert.

Lovecraft verwendet viele Seiten darauf, die Pracht und Größe der Stadt zu beschreiben: So bestehen Sarnath Mauern aus poliertem Marmor und die Straßen sind onyxgeschmückt. Jedes Haus hat einen eigenen Garten samt Teich, denn selbst die ärmsten Bürger Sarnaths sind reich im Vergleich zu den Bürgern anderer Städte. Die in Sarnath stattfindenden Zweikämpfe in prächtigen Arenen erinnern nicht von ungefähr an das dekadente Rom. Den höchsten Feiertag bildet jener Tag, an dem die Menschen die Stadt Ib ausgelöscht haben. Man gedenkt der damaligen Angreifer, während man in Gesängen die fremdartigen Bewohner Ibs verspottet. In Lovecrafts Geschichte naht nun das tausendjährige Jubiläum dieser Schlacht, die eigentlich nur ein Gemetzel war.

Das Verderben, das über Sarnath kam“ erzählt überwiegend von der Pracht und außergewöhnlichen Vormachtstellung Sarnaths. Doch gegen Mitternacht des Festtags steigt auf einmal Nebel aus dem nahegelegem See empor. Und zusammen mit diesem ergießt sich eine gewaltige Schar der Wesen Ibs in die Stadt. Es wird nicht genau geschildert, was dann in Sarnath passiert, aber jene, die diesem Angriff entfliehen können und später in die Region zurückkehren, entdeckten dort nichtmal mehr Ruinen. 50 Millionen Menschen starben dort in einer einzigen Nacht. Von der prächtigen Stadt ist dort nichts mehr zu sehen. Nur das einst verschollene Götzenbild Borkrugs ragt dort aus dem Sumpf hervor, wo früher einmal Sarnath lag.

Auch in dieser Geschichte zeigt sich das pessimistisch zyklische Geschichtsbild Lovecrafts: Der Hohezeit einer Kultur folgt früher oder später ihr Verfall. Der Zeitverlauf und der textliche Aufwand korelieren hierbei: Lovecraft beschreibt akribisch den Reichtum der Stadt und ihre prächtige Architektur. 1000 Jahre wächst und gedeiht Sarnath. Ihrem Untergang widmet der Schriftsteller knapp eineinhalb Seiten: In nur einer Nacht ist Sarnath ausgelöscht.

Wie in „Stadt ohne Namen“ zeigt sich allerdings auch hier, dass dieser zyklische Geschichtsverlauf nur für die menschliche Kultur Vernichtung bedeutet. Denn so wie die Bewohner der Namenlosen Stadt nicht wirklich tot waren, sind es auch die Bewohner Ibs nicht. Sie lebten stattdessen all die Jahrhunderte verborgen im See weiter. Ihre oberirdische Siedlung war zerstört, aber ihre Kultur lebte weiter. Sarnaths Zerstörung ist hingegen endgültig.

In seiner Abhandlung zu „Visionen der Stadt im Horrorgenre“ fasst Adrian Zagler sehr treffend den Grundtenor der Geschichte zusammen: „Gegen die Mächte des Kosmos hat auch die fortschrittlichste Zivilisation keinerlei Bestand und jeder Sieg der Menschheit kann nur ein temporärer sein.8Adrian Zagler: „Visionen der Stadt im Horrorgenre: Die Darstellung und Funktion der Stadt in der Prosa von H. P. Lovecraft (1890-1937)„. Norderstädt: 2010. S. 40. All jenen, die sich tiefergehend mit dem Thema befassen möchte, kann ich diese Bachelorarbeit nur ans Herz legen. Mein Artikel stützt sich überwiegend auf Zaglers Ausführungen. Ansonsten kann ich zu dem Thema kosmische Schrecken und Stadtdarstellung bei Lovecraft noch folgende Aufsätze empfehlen: Marco Frenschkowski: „H.P. Lovecraft: ein kosmischer Regionalschriftsteller. Eine Studie über die Topographie des Unheimlichen„, in H.P. Lovecrafts kosmisches Grauen“, hrsg. v. Franz Rottenstetter. Frankfurt am Main: 1997. S. 60–104. Und Gilles Menegaldo: „Die Stadt im Werk H.P. Lovecrafts„, in ebd. S. 231–244.

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Es ist übrigens bemerkenswert, wie sehr „Das Verderben, das über Sarnath kam“ sich heute als Geschichte einer gerechten/göttlichen Bestrafung fremdenfeindlicher Invasoren lesen lässt, in der die Menschen als Quitting für ihr aggressiv-expansives Bestreben schließlich ihr grauenvolles Ende finden.

Insofern bemerkenswert, da Lovecrafts Denken und mehrere seiner Geschichten teilweise selbst von starkem Rassismus geprägt waren. Je nachdem, wie autorenzentriert man bei der Textinterpretation vorgeht, kann man daher zu ganz unterschiedlichen Deutungen der Geschichte kommen (und die komplette Zerstörung Sarnaths als gerechte Strafe deuten oder als unmenschlichen Akt, der die ihnen schon immer innewohnende Bösartigkeit der Ibianer illustrieren soll).

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Die gemeinsamen Kennzeichen von Lovecrafts Ruinenstädten

Lovecraftsche Wüstenruinen

Die Namenlose Stadt ist bereits zu Beginn der Geschichte eine Ruine, Ib und Sarnath werden es im Verlaufe der Kurzgeschichte. All diesen Ruinenstädten ist gemeinsam, dass ihre Darstellung Lovecrafts philosophische Weltanschauung widerspiegelt. Kurz zusammengefasst: Es gibt keine höheren Mächte, der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung. Vielmehr ist die Existenz des Menschen im Universum von so kurzer Dauer, dass er nicht einmal zur Randerscheinung taugt. Sein Tun ist letztlich bedeutungslos. Ja, das klingt genauso deprimierend, wie es ist.

Wieso tauchen dann aber immer wieder übernatürliche Wesen in Lovecrafts Geschichten auf, wenn er nicht an höhere Mächte glaubt? Nun, Lovecraft war Materialist. Dass er Kreaturen wie die Großen Alten oder reptilienartige Humanoide in seinen Geschichten verwendete, bedeutet keineswegs, dass er insgeheim selbst an deren Existenz glaubte. Er benötigte sie als Kontrastfiguren, an denen er die Bedeutungslosigkeit und letztlich auch Schwäche der menschlichen Spezies verdeutlichen konnte. Und genau denselben Zweck erfühlen auch nahezu alle Ruinenstädte im Werk Lovecrafts: die hier behandelte Namenlose Stadt, Ib und Sarnath ebenso wie die Unterwasserstadt R’lyeh oder das arktische Leng aus seiner deutlich späteren Erzählung „Berge des Wahnsinns„.

Die drei schon zuvor genannten Merkmale der Stadt ohne Namen lassen sich daher bei nahezu allen Ruinenstädten Lovecrafts finden:

  • immenses Alter: Lovecraft siedelt die Entstehung der Stadt ohne Namen in einer vorsintflutlichen Zeit an. Dennoch übertrumpfen die zivilisatorischen Leistungen der dort lebenden Reptiloiden die nachfolgenden Leistungen der menschlichen Hochkulturen. Die Menschen fühlen sich nur deswegen als „Krone der Schöpfung“, weil sie von den früheren Kulturen nichts mehr wissen. Die Metropole Sarnath ist 10.000 Jahre alt, doch die von nichtmenschlichen Seebewohnern gegründete Stadt Ib ist noch sehr viel älter.
  • Imposante Architektur und hoher Zivilisationsgrad der fremden Kultur: Immer wieder betont Lovecraft die gigantischen Ausmaße der Bauten in „Stadt ohne Namen„. Damit werden die architektonischen Fähigkeiten der nichtmenschlichen Spezies unterstrichen, die jene der Menschen bei Weitem übertreffen. Dasselbe gilt für die technischen Leistungen der Reptilienrasse: So beherrschten sie die Glasverarbeitung Jahrtausende vor den ersten menschlichen Siedlern in Ägypten und Mesopotamien. Das von Menschen erbaute Sarnath zeichnet sich zwar ebenfalls durch seine beeindruckende Architektur aus, allerdings soll hierdurch nicht die Überlegenheit der menschlichen Spezies illustriert werden. Vielmehr verdeutlicht die Geschichte, dass selbst so eine reiche und mächtige Stadt wie Sarnath der Bedrohung durch finstere Kräfte nicht das Geringste entgegenzusetzen hat.
  • Wiedererwachen der untergegangenen Kultur: Lovecraft greift in seinen Erzählungen ein zyklisches Geschichtsbild auf: Kulturen steuern einer Blütezeit entgegen, erleben dann jedoch eine Phase der Degeneration und lösen sich schließlich auf. Als Beispiel einer solchen aufstrebenden und schließlich zerfallenden Kultur wird häufig das antike Rom genannt. Auch die Stadt ohne Namen scheint eine solche Entwicklung durchlaufen zu haben. Ihre Bewohner degenerierten und die Stadt verfiel. Ein wesentlicher Unterschied ist jedoch, dass dieser Verfall bei Lovecrafts nichtmenschlichen Kulturen nicht von Dauer ist. Wenn Lovecraft die Stadtruinen anfangs als „Überlebenden der Sintflut“ bezeichnet, deutet er damit bereits an, dass die Stadt möglicherweise nicht ganz so tot ist, wie es den Anschein macht. Und auch die totgeglaubten Bewohner Ibs warteten über die Jahrhunderte auf ihre Rache. Lediglich die Zerstörung der Menschenstadt Sarnath ist dauerhaft.

Diese drei Aspekte findet man in zahlreichen Geschichten Lovecrafts und sie prägen auch die nachfolgenden Geschichten um die Großen Alten. Im Grunde arbeitet Lovecraft in seinen Erzählungen oft nur mit einer handvoll Ideen und Motiven. Allerdings wäre es falsch zu behaupten, er würde sich ständig selbst kopieren (obwohl auch das bisweilen vorkam). Vielmehr verfeinerte er seine Konzepte und entwickelte sich im Rahmen seines kosmologischen Konzepts weiter. So mag man sich Joshi Urteil anschließen, dass „Stadt ohne Namen“ schriftstellerisch bei Weitem nicht Lovecrafts bestes Werk ist. Doch findet man dort bereits Konzepte, die dann in seinem 10 Jahre später veröffentlichtem und deutlich stärkerem Roman „Berge des Wahnsinns“ erneut auftauchen.

Auch in seinen anderen Stadtgeschichten greift Lovecraft einige der hier genannten Konzepte auf. Das Merkmal der kulturellen Degeneration arbeitet Lovecraft allerdings in seinen Geschichten um die amerikanischen Städte Arkham, Dunwich und Innsmouth deutlich stärker heraus. Und mit genau diesen Orten wird sich der nächste Teil der Reihe „Architektur des Grauens. Städte im Werk Lovecrafts“ beschäftigen.

 



 

Raben aufder Umzäunung eines Arkham-Hauses

 

Literaturverzeichnis

Lovecraft, Howard Phillips: „Stadt ohne Namen“, in. H.P. Lovecraft. Das Gesamtwerk. Band 1″, S. 250269.

Lovecraft, Howard Phillips: „Das Verderben, das über Sarnath kam“, in. H.P. Lovecraft. Das Gesamtwerk. Band 1″, S. 99108.

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„DIE BIBEL. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Psalmen und neues Testament. Ökumenischer Text“, hrsg. v. der Deutschen Bibelgesellschaft. 1. Aufl. – Stuttgart: 1999.

Frenschkowski, Marco : „H.P. Lovecraft: ein kosmischer Regionalschriftsteller. Eine Studie über die Topographie des Unheimlichen„, in H.P. Lovecrafts kosmisches Grauen“, hrsg. v. Franz Rottenstetter. Frankfurt am Main: 1997. S. 60–104.

Joshi, Sunand Tryambak: „H.P. Lovecraft. Leben und Werk. Band 1: 18901924„. München/Berlin: 2017.

Menegaldo, Gilles : „Die Stadt im Werk H.P. Lovecrafts„, in H.P. Lovecrafts kosmisches Grauen“, hrsg. v. Franz Rottenstetter. Frankfurt am Main: 1997. S. 231–244.

Zagler, Adrian: „Visionen der Stadt im Horrorgenre: Die Darstellung und Funktion der Stadt in der Prosa von H. P. Lovecraft (1890-1937)„. Norderstädt: 2010. Hier als Onlineversion bestellbar.

 

Bildnachweise



Autor: Marius Tahira

Blogger und hauptsächlich Verantwortlicher der Website marius-tahira.de, auf der er sich den Genres Horror, Dystopie und Thriller widmet. Nach einer Verlagsausbildung und seinem Germanistikstudium war er lange Zeit im Lektorat tätig und arbeitet nun im Bereich der Suchmaschinenoptimierung.

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