Alfred Hitchcocks Psycho gehört zu den Meilensteinen der Filmgeschichte. Doch die Figuren und Motive des Films – Norman Bates und sein Ödipus-Komplex, der Mord in der Dusche – all das hat sich nicht Hitchcock ausgedacht, sondern der Autor Robert Bloch. Er schrieb die Romanvorlage für den Film. Doch Anerkennung erfuhr er dafür kaum. Vielmehr verkündeten Feuilletonisten und Kritiker, dass der große Alfred Hitchcock aus einem minderwertigen Trivialroman ein filmisches Meisterwerk geschaffen habe. Ein seltsamer Widerspruch, hatte Hitchcock doch die gesamte Handlungsstruktur des angeblich so miserablen Romans verwendet.
Die Kamera zeigt eine junge Frau unter der Dusche. Der Vorhang wird weggerissen und schrille Streicherglissandi schneiden durch die Stille. Ein Messer stößt auf die Wehrlose nieder; die Filmschnitte sind so zahlreich wie die Stiche in den Körper des Opfers.
Jeder kennt diese Szene – selbst Menschen, die Hitchcocks Psycho nie gesehen haben. Sie hat sich regelrecht ins kulturelle Gedächtnis der Menschen hineingeschnitten. Hitchcocks Low-Budget-Film spielte bei 800.000 Dollar Kosten mehr als 50 Millionen Dollar ein. Der Star-Regisseur hatte damit den zahlreichen Skeptikern eindrucksvoll bewiesen, dass er selbst mit kleinem Budget großes Kino schaffen kann. Doch nicht nur die Produktionskosten waren gering: Auch die Summe, die der geistige Vater von Psycho erhielt, war alles andere als üppig. Der Schriftsteller Robert Bloch verdiente am Verkauf der Filmrechte nur 9000 Dollar – vor Abzug der Steuern.
„Was ist schon schnödes Geld im Vergleich zu ewigem Ruhm?“, mag manch Idealist einwenden. Das Problem: Auch dieser wird Bloch vorenthalten. Der Name Hitchcock überstrahlt den Blochs bei Weitem. Und wenn Bloch im Feuilleton oder wissenschaftlichen Abhandlungen doch einmal erwähnt wird, dann als Randnotiz oder in abwertenden Vergleichen. Dabei waren die ersten Rezensionen zu Blochs Roman überaus positiv. Aber nach der Verfilmung änderte sich das: Getreu dem Motto „Du sollst keinen anderen Götter neben Hitchcock haben“ begannen die Kritiker, Hitchcocks Anteil überzubetonen und die Leistung Blochs niederzureden. Das verwundert umso mehr, da Hitchcock selbst die Leistung Blochs stets hervorhob. Aber auch der Regisseur verband sein Lob mit der Abwertung einer anderen Person. Während er die Bedeutung Blochs herausstrich, spielte er die seines Drehbuchschreibers Joseph Stefano immer wieder herunter: „Psycho war ganz allein das Werk von Robert Bloch. Joseph Stefano […] steuerte hauptsächlich Dialoge dazu bei, aber keine Ideen.“1Zitiert nach Stephen Rebello: Hitchcock und die Geschichte von Psycho. Übers. v. Lisa Kögeböhn, Bernhard Matt und Uli Mayer. 2. Aufl. München: 2013. S. 92. Dass der Drehbuchautor öffentlich später meist schlecht über Blochs Roman redete, könnte damit zusammenhängen, dass Hitchcock ihm mitgeteilt hatte, dass ihm bereits ein erster Drehbuchentwurf von Bloch selbst vorläge. Dieser würde ihm aber nicht gefallen. Stefano sah sich als Drehbuchschreiber daher in Konkurrenz zu Bloch, dessen minderwertiges Skript er übertreffen müsse. Obwohl Hitchcock ihm in dieser Hinsicht einen Bären aufgebunden hatte, wurde Stefano in den folgenden Jahren nie müde, zu erwähnen, dass nicht Bloch, sondern er die eigentliche Vorlage für Psycho geschrieben habe. Vgl. ebd. S. 89.
Wer mehr über die Produktionsbedingungen des Films erfahren möchte, dem sei die nonchalant-schwarzhumorige Filmbiografie „Hitchcock“ ans Herz gelegt, in der Anthony Hopkins in die Rolle des Regisseurs schlüpft. Der Film basiert auf dem Sachbuch „Hitchcock und die Geschichte von Psycho“ von Stephen Rebello.
„Psycho“ – Hitchcock erwirbt die Rechte für ein paar Peanuts
Bis auf einen Oscar-Gewinn schien Hitchcock alles erreicht zu haben, was man als Filmregisseur erreichen kann. Der inzwischen Sechzigjährige hatte Dutzende von Filmen herausgebracht, war bei Publikum wie Kritikern beliebt, residierte in einer Suite in Hollywood und erhielt pro Film ein garantiertes Honorar von 250.000 Dollar plus Gewinnbeteiligung.
Doch trotz seiner Erfolge plagte den Meister des Suspense eine Angst, die vielen seiner Kollegen fremd war: Die Angst, sich stilistisch zu wiederholen! Nach rund 40 Jahren Filmproduktion gingen Hitchcock allmählich die Ideen aus. Seine Assistentin Peggy Robertson hatte daher den Auftrag, die Augen nach interessantem Filmstoff offenzuhalten.
Es war ein Aprilmorgen im Jahr 1959, als Robertson auf eine überschwängliche Buchkritik in der New York Times stieß. Rezensiert wurde dort Robert Blochs Roman Psycho. Laut dem Urteil des Literaturkritikers Boucher ein faszinierender Schocker. Nachdem Robertson ihren Chef auf den Roman aufmerksam gemacht hatte, zog Hitchcock sich ein Wochenende lang in sein Haus in Bel-Air zurück. Dort las er das Buch – und war begeistert! Bloch deutete nicht nur Tabuthemen wie Inzest und Nekrophilie an, an die sich filmisch bislang kaum ein Regisseur herangetraut hatte – nein, der erste Mord in seinem Thriller traf die damaligen Leser auch vollkommen unerwartet. Hitchcock würde später die Bedeutung dieser Szene immer wieder herausstellen:
„Was mich anzog und mich letztlich dazu brachte, den Film zu machen, war der Mord unter der Dusche, weil der so plötzlich erfolgte, wie aus heiteren Himmel.“2Alfred Hitchcock zitiert nach Stephen Rebello: Hitchcock und die Geschichte von Psycho. S. 58 f.
Noch im selben Monat erhielt Blochs Agent Harry Altshuler ein Angebot: Ein Mittelsmann Hitchcocks bot 7500 Dollar für die Filmrechte. Wer hinter dem Angebot steckte, teilte man ihm allerdings nicht mit. Bloch selbst riet seinem Agenten, den Preis auf 10.000 hochzuhandeln. Man einigte sich schließlich auf 9000 Dollar.
Nach Abzug der Steuern und des Pflichtanteils für den Verlag blieben Bloch davon 6750 Dollar übrig. Sein Agent hielt das für einen guten Deal. Später erfuhr der Autor, dass der Vertrag auch keinerlei Gewinnbeteiligung im Falle einer Verfilmung beinhaltete. Bloch dürfte sich maßlos geärgert haben, als man ihn schließlich informierte, dass Star-Regisseur Hitchcock die Rechte an seinem Film erworben hatte.
Allein in den USA spielte Psycho mehr als 14 Millionen Dollar ein. Bloch sah davon keinen Cent.
Der Serienmörder Edward Gein: Die Vorlage für Norman Bates
Sein Umfeld und die meisten Hollywood-Größen waren nicht gerade angetan von Hitchcocks Idee, Psycho zu verfilmen. Der Stoff sei zu abgründig für das Mainstream-Publikum und damit Kassengift. Den damaligen Studiobossen gab Drehbuchlektor William Pinckard folgende Einschätzung mit auf den Weg:
„Zu abschreckend für einen für einen Film, schockierend auch für einen ziemlich abgebrühten Leser. Es besteht gar kein Zweifel, dass der Autor den Leser gekonnt irreführt und bis zum Ende nicht preisgibt, dass die Mutter des Bösewichts in Wahrheit eine ausgestopfte Leiche ist. Schlau konstruiert, ziemlich furchterregend am Ende, und eigentlich sehr glaubwürdig. Aber unmöglich für einen Film.“3Zitiert nach Stephen Rebello: Hitchcock und die Geschichte von Psycho. S. 48 f.
Weiß man aber, wer Bloch zu seiner Figur des Norman Bates inspiriert hat, muss man zugeben, dass sowohl der Roman als auch Hitchcocks Filmversion weniger schockierend waren als die Wirklichkeit. Bloch selbst gab an, dass ihm die Idee zu Psycho nach den Vorkommnissen um Edward Gein gekommen war. Doch wer war dieser Edward Gein?
Der 1906 geborene Edward Gein wuchs in Plainfield auf, einer kleinen Gemeinde in Wisconsin. Zusammen mit seinem Bruder Henry lebte er bei seiner verwitweten Mutter und half regelmäßig bei der Farmarbeit. Kontakt zu Frauen war den Brüdern nicht gestattet: Ihre dominante Mutter wachte streng darüber, dass die beiden nicht dem verfielen, was sie für sexuelle Sündhaftigkeit hielt. Nachdem seine Mutter einem Schlaganfall erlegen und sein Bruder bei einem Brand gestorben war, lag die Verantwortung für das Anwesen bei Edward. Ob sein Bruder Henry Gein allerdings tatsächlich einem Feuer zum Opfer fiel, ist fraglich. Zwar hatte es ein Feuer auf der Farm gegeben, aber da die Leiche außerdem schwere Kopfverletzungen aufwies, gilt Henry Gein inzwischen als mögliches erstes Opfer seines Bruders. Edward Gein gab nach dem Tod seiner Verwandten die Farmarbeit auf und verdiente sein Geld mit Gelegenheitsarbeiten: Er übernahm Botengänge und kleinere Reparatur-Arbeiten für die anderen Dörfler.
Der Serienkiller Edward Gein stand nicht nur Pate für Norman Bates, sondern beeinflusste auch die Darstellung weiterer Thriller-Schurken – beispielsweise die Figur des Buffalo Bills im Roman „Das Schweigen der Lämmer“.
Den damaligen Presseberichten zufolge entwickelte Edward Gein den starken Wunsch, eine Frau zu sein. Diese Annahme beruhte auf der Tatsache, dass Ed Gein sich aus Leichenteilen und der Haut von Frauen spezielle Masken und Anzüge gefertigt hatte. Zunächst nutzte er dafür Leichen, die er zusammen mit einem Komplizen aus den nahegelegenen Friedhofsgräber ausgegraben hatte. Nachdem sein Gefährte jedoch inhaftiert und in eine Anstalt eingewiesen worden war, begann Gein, Frauen aus der Umgebung zu ermorden, um an die notwendigen „Materialien“ für sein Frauengewand zu kommen. Er köpfte seine Opfer, weidete sie aus und nähte sich Masken aus ihrer abgezogenen Gesichtshaut, die er mit Rouge schminkte. Zu Hause trug er eine Weste aus Frauenbrüsten. Gleichwohl die damals vorschnell veröffentlichten Berichte über Ed Geins Transsexualität (sie wurden größtenteils publiziert, noch bevor tatsächliche psychologische Gutachten existierten) mit kritischer Distanz betrachtet werden sollten, dürften sie dennoch Bloch und Hitchcock beeinflusst haben.
Nach seiner Festnahme konnte Ed Gein sich eigenen Aussagen zufolge kaum an die Morde erinnern. Angeblich hatte er sie in einer Art Rauschzustand begangen. Trotz der zahlreichen Leichenteile und der menschlichen Organe, die man in Küche und Kühlschrank gefunden hatte, gab Edward Gein nur zwei Morde zu. Doch als er im Zuge des Prozesses behauptete, nicht mal ein Reh schießen zu können, wirkte das insbesondere auf jene Mitbürger, denen er regelmäßig kleine Proviantpakete mit „frischem Wild“ geschenkt hatte, alles andere als beruhigend.
Bloch interessierte an diesem Vorfall, wie jemand solch grausige Verbrechen unentdeckt in einer ländlichen Umgebung begehen konnte, in der jeder jeden zu kennen schien:
„Die Vorstellung faszinierte mich derart, dass ich sofort daran ging, einen Roman über einen solchen Charakter zu schreiben. Um ihn mit einer Ansammlung möglicher Opfer zu versorgen, entschied ich, dass er ein Motelangestellter sein müsste. Dann kam die heikle Frage danach, was in ihm vorging – die Frage nach der Motivation. Der Ödipuskomplex schien eine richtige Antwort und die Sache mit dem Transvestitentum eine logische Folge. Der Roman, der daraus entstand, war Psycho.“4Zitiert nach Michael Farin & Hans Schmid: Ed Gein: A Qiet Man. München: 1996. S. 46.
Vieles, was die Figur Norman Bates prägt, hatte Bloch dem realen Vorbild Edward Gein entnommen: die dominante Mutter mit ihrer sexualfeindlichen Haltung, die Isolation des einsam in ländlicher Umgebung lebenden Mörders und die gestörte Geschlechtsidentität.
Hitchcock betrieb erheblichen Werbeaufwand für Psycho, legte aber Wert darauf, keine konkreten Filmszenen zu spoilern. Er ließ vor der Filmpremiere in den amerikanischen Buchhandlungen sogar sämtliche Romanausgaben aufkaufen, damit niemand das Ende lesen konnte. In diesem Kinotrailer führt der Regisseur über das Setting, doch der Zuschauer bekommt keinerlei Filmausschnitte zu sehen. Übrigens: Hitchcock, der einige Jahre in Deutschland gearbeitet hatte, synchronisierte sich in diesem Trailer selbst.
Robert Blochs und Hitchcocks „Psycho“ im Vergleich
Bis auf minimale Änderungen übernimmt Hitchcock in seinem Film die komplette Handlungsstruktur der Romanvorlage (Wer keines der Werke kennt, sollte jetzt diesen Artikel schließen und das ändern. Wer seine Erinnerung auffrischen möchte, findet hier eine Zusammenfassung). Die meisten Änderungen hat Hitchcock dabei im Sinne einer effektiveren Spannungsdramaturgie vorgenommen.
Tatsächlich hat Hitchcock, der oft als Meister des Suspense bezeichnet wird, anfangs den Suspense-Anteil – also die Spannung, die dadurch entsteht, dass man etwas Negatives voraussieht – zugunsten eines Überraschungseffekt reduziert. Denn Bloch leitet das erste Kapitel mit Norman Bates ein, der gerade fasziniert ein Buch über brutale Inka-Praktiken liest. Damit liefert der Autor dem Leser bereits mehrere Hinweise auf den späteren Verlauf der Geschichte:
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- Da Norman Bates schon im ersten Kapitel auftaucht und man Einblick in seine Gedanken bekommt, kann der Leser bereits erahnen, dass Norman keine unwichtige Nebenfigur ist.
- Die schwierige Beziehung zu seiner Mutter wird ebenfalls angedeutet.
- Bates liest voller Begeisterung, wie die Inka früher aus den Leichen ihrer getöteten Feinde Trommeln hergestellt haben. Der ausgehöhlte Körper diente dabei als Klangkörper, die Trommelschläge hallten aus den künstlich geöffneten Mündern heraus. Spätestens bei dieser Beschreibung dürfte so mancher Leser ahnen, dass Bates den ein oder anderen seelischen Abgrund verbirgt.
Bloch arbeitet in seinem Roman mit Twists und (vermeintlich) falschen Fährten: Zunächst erscheint Norman Bates als potenzieller geistesgestörter Mörder; nach dem ersten Mord lenkt Bloch den Verdacht dann auf die Mutter, und am Ende war es schließlich doch Bates. Hitchcock hingegen beginnt die Szene mit dem Liebespaar Mary und Sam und verleiht damit dem Mord in der Dusche mehr Durchschlagskraft. Einen Hinweis auf Norman Bates gibt es bei ihm nicht, stattdessen konzentriert sich die erste Szene auf Mary Crane.5Im Film wird sie eigentlich „Marion“ genannt, im Buch hingegen „Mary“. Der Einfachheit halber nutze ich nachfolgend durchgängig den Namen „Mary“. Dadurch wirkt es so, als wäre sie die Hauptfigur des Films. Und kaum jemand würde bei einer vermeintlichen Hauptfigur vermuten, dass diese im ersten Filmdrittel stirbt.
Dass die Schauspielerin Janet Leigh die Rolle der Mary Crane übernahm, dürfte diesen Überraschungseffekt noch verstärkt haben. Denn Janet Leigh war in den 60er-Jahren keine Unbekannte mehr, sondern berühmt durch ihre Hauptrollen in zahlreichen Abenteuer- und Liebesfilmen. Somit knüpfte Hitchcock bewusst an die Erwartungen des Publikums an, als er seinen Thriller ausgerechnet mit einem Liebespaar begann.
Mit welchem Kalkül Hitchcock von seinem eigentlichen Schurken ablenkt, wird auch an einer weiteren Filmszene deutlich, für die es keine Entsprechung im Roman gibt: Nachdem Mary beschlossen hat, die 40.000 Dollar, die sie für ihren Chef zur Bank bringen sollte, zu stehlen und bei ihrem Verlobten in Fairvale unterzutauchen, hält sie nach mehreren Stunden Fahrt am Straßenrand an, um auszuruhen. Sie erwacht schließlich, als sie ein Polizist anspricht, der ihre Papiere sehen will. Er lässt sie zwar weiterfahren, aber folgt ihr bis in die nächste Stadt, wo er sie geraume Zeit beobachtet. Hitchcocks Inszenierung suggeriert, dass der Zuschauer gerade einen konventionellen Krimi sieht, indem es um die flüchtige Mary und ihr Verbrechen geht. Umso unerwarteter trifft den Zuschauer dann ihre Ermordung. Erst nach dem ersten Filmdrittel entsteht die Spannung dann durch Vorahnung, weil das Publikum nun weiß, welche Gefahr Marys Angehörige im Bates-Hotel erwartet.
Robert Bloch hingegen arbeitet von Anfang an mit Andeutungen: Die problematische Mutter-Kind-Beziehung und die teilweise morbiden Interessen des Motel-Betreibers erahnt der Romanleser bereits nach wenigen Seiten.
Während in Blochs Psycho der eigentliche Verbrecher Norman Bates bereits im ersten Kapitel auftritt, hat Hitchcock die Romanhandlung extra um zusätzliche Szenen ergänzt, damit es so wirkt, als ob der Diebstahl Marys und ihre Flucht vor der Polizei die Hauptthemen des Films sind.
Norman Bates: Vom übergewichtigen Versager zum schüchternen Schönling
Wesentlich zur Zuschauertäuschung trug auch Hitchcocks Besetzung für die Rolle des Norman Bates bei. Im Original war Norman Bates ein übergewichtiger Mann mit lichtem Haar, der immer wieder zur Whiskey-Flasche griff, um seine Sorgen zu ertränken:
„Der Lampenschein fiel auf sein rundliches Gesicht, spiegelte sich in seiner randlosen Brille und hob, als er sich wieder über sein Buch beugte, die rosafarbene Kopfhaut unter dem sich lichtenden sandfarbenen Haar hervor.“6Robert Bloch: Psycho. 3. Aufl. Hamburg: 2020. S. 8.
Bates‘ Verhältnis zu Frauen und Sexualität ist aufgrund der missbräuchlichen Erziehung durch seine Mutter und seine Identitätsstörung komplett aus den Fugen geraten. Auf der einen Seite begehrt er Frauen und fühlt sich sexuell zu ihnen hingezogen, auf der anderen Seite verdammt er ihre aufreizende manipulative Art. Dann wieder fühlt sich als Mann unvollständig, da er fürchtet, den vermeintlichen sexuellen Erwartungen der Frauen nicht zu genügen. Im Film übernahm die Rolle Anthony Perkins. Ein Schauspieler, den man vier Jahre zuvor für den Oscar nominiert hatte und der für sein Talent bekannt war, zweifelnde vielschichtige Männerfiguren darzustellen. Männer, die im starken Gegensatz zum damaligen Hollywood-Klischee des harten, raubeinigen Helden standen. Doch obgleich Perkins zur Darstellung der inneren Konflikte Bates sicher die perfekte Wahl war, entsprach er optisch so rein gar nicht der Romanfigur.
Hitchcock machte sich hierbei das oft stereotype Denken der Menschen zunutze: Denn gerade die männlichen Schurken waren und sind in vielen Filmen oft unattraktiv und entstellt, während man Schönheit eher mit den Helden assoziiert (eine Ausnahme bildet hierbei der sündige Verführer in Tradition der Gothic Novels). Allein das Äußere Perkins dürfte also schon dazu beigetragen haben, dass viele der Figur mehr Mitleid und Verständnis entgegenbrachten als dem „versoffenen Dicken“ der Romanvorlage.
Wie sehr Perkins für das Publikum zur Inkarnation Norman Bates schlechthin geworden ist, erkennt man auch daran, dass seine Silhouette noch heute auf vielen Buchcovern prangt. Und das, obwohl Norman Bates im Roman selbst dann vollkommen anders aussieht.
Wie Hitchcock Kannibalismus andeutete und trotzdem die Zensur umging
Hitchcock saßen die Zensoren dicht im Nacken. Bereits nach Sichtung des Drehbuchs hatte ihm die Motion Picture Association of America signalisert, dass sie mit vielen Szenen nicht einverstanden sei: Die Dialoge zwischen Mary und Sam seien zu anzüglich, die Andeutung der inzestuösen Beziehung zwischen Norman und seiner Mutter zu gewagt. Und ohne Freigabe der Organisation würden sich die meisten Kinos weigern, den Film zu zeigen. Es ist jedoch zu vermuten, dass Hitchcock und Stefano einige sexuell aufgeladenen Szenen vor allem deswegen ins Drehbuch geschrieben hatten, damit sie die Aufmerksamkeit der Zensoren weg von den Morden lenken würden. Und tatsächlich wurde an der legendären Duschszene vergleichsweise wenig kritisiert.
Dass Psycho ein Herzensprojekt Hitchcocks war, lässt sich daran erkennen, dass er den Film mit seiner eigenen Produktionsfirma drehte, nachdem Paramounts ihm die Finanzierung verweigert hatte. Die dadurch gewonnene Freiheit nutzten Hitchcock und Drehbuchschreiber Stefano so weit aus, wie es ihnen möglich war, ohne einer Zensur zum Opfer zu fallen. In der heutigen Zeit kann man sich das kaum vorstellen, aber schon allein, dass sie in ihrem Film eine Toilette zeigen wollten, empfanden Hitchcock und Drehbuchschreiber Stefano als außerordentlich rebellische Provokation des konservativ-puritanischen Amerikas. Und sie hatten eine diebische Freude dabei.
Indes: Eine bildliche Darstellung der nackten Leiche wäre undenkbar gewesen. Doch Hitchcock wollte auch die Tabu-Themen, die den Roman auszeichneten, in seinem Film einbringen. Er wollte das Triebhafte der Figur Bates einfangen. Aber eine konkrete Darstellung hätte nicht zu einem Skandal geführt. Nein, sie hätte schlicht bewirkt, dass der Film niemals in den Kinos gezeigt worden wäre! Also musste sich der Regisseur eines Kniffes bedienen, um sexuelle Themen anzudeuten, ohne Sexuelles zu zeigen.
Er bedient sich dazu eines einfachen Tricks: Er verknüpft das Thema der Sexualität mit einem anderen Trieb, den er problemlos auf der Leinwand zeigen durfte: Hunger!
Diese Metapher nutzt Hitchcock schon in der ersten Szene des Films: In dieser zeigt er Sam und Mary sich küssend in einem Hotelbett. Was dort zuvor passiert ist, kann man sich mit wenig Fantasie denken. Aber Mary ist unzufrieden: Ihre Beziehung zu Sam besteht bei Hitchcock nur aus flüchtigen Treffen, die meist im Bett enden. Mary hat genug davon und möchte endlich eine richtige Beziehung … ihr genügen die gelegentlichen sexuellen Treffen nicht. Sam fragt, direkt bevor die beiden sich im Bett leidenschaftlich küssen, ob Mary nicht wenigstens etwas essen wolle. Doch wenn Sam, der seine erotischen Abenteuer nicht aufgeben möchte, sich eine Mary mit etwas mehr Appetit wünscht, dann zielt das keineswegs nur auf die Nahrungsaufnahme ab.
In einer anderen Szene belauscht Mary einen vermeintlichen Dialog Normans mit seiner Mutter, die ihn vor den sexuellen Avancen dieser jungen Frau warnt (ihn Wirklichkeit spricht Norman mit verstellter Stimme in der Rolle seiner Mutter). Dabei verknüpft die „Mutter“ sehr eindeutig den Begriff „Appetit“ mit sexuellem Begehren:
„Nein, das verbiete ich dir, verstanden? Wie denkst du dir das? Junge Mädchen in mein Haus zu bringen – zum Essen! Vielleicht noch bei Kerzenlicht! Oder bei roter Beleuchtung! […] Hat sie dich wieder verrückt gemacht mit ihrer angemalten Larve? Und was gibt es zum Nachtisch? Leise Musik und zärtliches Geflüster? Ich kenn‘ dich doch! […] Man liest doch immer wieder von diesen Weibern, die sich auf Landstraßen rumtreiben. Die hat noch nichts gegessen? Das kann ich mir denken, dass sie „Appetit“ hat. Aber mehr auf meinen Sohn als auf ein Stück Brot!“
Das nachfolgende Gespräch zwischen Mary Crane und Norman Bates ist eine der Schlüsselszenen des Films. Mary folgt der Einladung von Bates, gemeinsam in seinem Wohnzimmer zu Abend zu essen. Norman erscheint hier als schüchterner junger Mann – mit seltsamen Hobbys, aber durchaus nicht unsympathisch. Hitchcock liefert aber schon eine erste Vorausdeutung auf Normans unterdrückte Triebhaftigkeit und seine Mordgelüste. Im Buch präpariert Bates tote Eichhörnchen: Dieser Umstand zielt eher auf seine Mutter ab, deren Leiche er zwecks besserer Konservation präpariert hat. Im Film sammelt er hingegen ausgestopfte Vögel. Wenn er dann Mary Crane (der englische Begriff „Crane“ bedeutet Kranich) erzählt, dass er am liebsten Vögel ausstopft, schwingt dabei eine unangenehme Doppeldeutigkeit mit.
Zu Beginn isst Norman übrigens nicht mit, da er angeblich keinen Hunger hat. Als das Gespräch auf seine Mutter kommt und Mary durchschimmern lässt, dass ihrer Meinung nach ein erwachsener Mann sich irgendwann von seiner Mutter loslösen und sich nicht alles gefallen lassen sollte, wird Norman zunehmend aufgebrachter. Zornig redet er sich in Rage. Mary fühlt sich davon abgestoßen und möchte sich auf ihr Zimmer zurückziehen. Norman dürfte diese Zurückweisung durch eine Frau, die er sexuell anziehend findet, durchaus spüren. Als er nach dem Gespräch plötzlich doch einen Bissen zu sich nimmt, liegt es nahe, das nicht als Anzeichen eines Hungergefühls zu deuten, sondern als Metapher für die verschlingende Lust Norman Bates‘. Ohne Kontext mag diese Interpretation weit hergeholt wirken, aber tatsächlich beginnt Norman Bates direkt nach dieser Szene, Mary durch ein Gucklock beim Ausziehen und Duschen zu beobachten. Und eine weitere Kleinigkeit fällt bei Hitchcocks Inszenierung auf: Nachdem Norman Mary ermordet hat, sieht man nie den ganzen Leichnam. Bates hingegen ist nach dieser Szene im Film immer wieder und unentwegt am Kauen! Ein Verhalten, das er vor dem Mord nie gezeigt hat.
Hitchcock etabliert die Begriffe „Hunger“ und „Appetit“ als Synonyme für sexuelle Lust, lässt Norman Bates vor der Frau mit Vogelnamen beichten, dass er Vögel am liebsten ausstopft, und zeigt nach dem Mord an eben dieser Frau, wie Bates unentwegt auf etwas herumkaut!
All diese Inhalte findet man nicht im Roman, doch auch Hitchcock kannte die Geschichten um den realen Mörder Edward Gein, der Teile seiner Opfer im Kühlschrank und Kochtopf aufbewahrte und in seiner Wohnung Frauenleichen präparierte. Zwar konnte man Edward Gein Kannibalismus nie nachweisen, doch gingen entsprechende Gerüchte damals durchaus durch die Presse. In seinem Film griff Hitchcock diese schockierenden Gerüchte auf. Das Thema des triebhaften Kannibalismus deutet er auf solch subtile Weise an, dass die Zensoren keinerlei Verdacht schöpften.7Vgl. Michael Farin & Hans Schmid: Ed Gein: A Qiet Man. 96 f.
Hitchcocks „Psycho“: Das Triebhafte und der Zuschauer als Voyeur
Die Betonung des Triebhaften und Sexuellen ist etwas, das Hitchcocks Version vom Roman unterscheidet, auch wenn der Roman diese Themen natürlich ebenfalls aufgreift. Beides hat in Hitchcocks Film aber mehr Gewicht und wird auch ausführlicher behandelt. Wie bereits erwähnt, beginnt Hitchcock seinen Film direkt mit der Darstellung eines leichtbekleideten sich küssenden Paars in einem Hotelbett. Im Buch sind Sam und Mary bereits verlobt, doch führen sie eine Fernbeziehung und sehen sich fast nie. Stattdessen schreibt ihr der konservative und zögerliche Sam regelmäßig Briefe. Bei Hitchcock hingegen reagiert Sam auf die Beschwerde Marys, dass ihre Beziehung nur versteckt in Hotelbetten stattfinde mit den Worten: „Was sollen wir sonst tun? Uns Liebesbriefe schreiben?“ Bei Sam ist das Sexuelle verlangen im Film also sehr viel offenkundiger ausgeprägt als beim eher biederen Sam des Romans.
In seine ursprüngliche Drehbuchversion hatte Stefano mehrere Szenen hineingeschrieben, die auf eine Impotenz Norman Bates hinweisen (die auch in der Romanvorlage Blochs angedeutet wird). Hitchcock hat jedoch keine dieser Szenen für seinen Film verwendet. Vielmehr deutete er durch seine Inszenierung einen sexuell geprägten Kannibalismus dieser Figur an.
Und zu guter Letzt war Hitchcock im Medium Film natürlich viel stärker in der Lage, den Zuschauer in die Rolle des heimlichen Voyeurs zu drängen. Im Buch wird die Umkleide- und Duschszene praktisch zweimal erzählt: Einmal, wie sie direkt in Marys Zimmer stattgefunden hat, danach nochmal aus der Erinnerung des heimlichen Beobachters Norman Bates. Bei der zweiten Beschreibung weiß der Leser allerdings schon, dass es zum Mord kommen wird. Er erwartet daher weniger eine aufreizende Darstellung der nackten Mary als vielmehr einen Hinweis auf die Identität des Mörders (der aber nicht kommt, weil Bates sich dann von seinem Spähloch abwendet und später im Wahn das von ihm begangene Verbrechen mit seiner Mutter assoziiert).
Hitchcock hingegen kann durch Kamerawinkel und Perspektive präzise die Blickrichtung des Publikums bestimmen. Der Zuschauer mag sich eventuell über Bates verhalten entrüsten, aber er erlebt wie dieser direkt mit, wie sich die junge Frau dort allmählich auszieht …
Der Aspekt des Voyeuristischen war zwar schon in der Vorlage enthalten, aber im visuellen Medium des Film kommt er viel stärker zum Tragen. Hitchcock lotete bewusst die Grenzen dessen aus, was man damals an sexuellen Inhalten, an Tabus und Schocks zeigen konnte. Seine Dialoge sind zudem straffer und pointierter, die Handlung ist stärker auf den Überraschungseffekt hin komponiert. Es gibt also nachvollziehbare Gründe, warum man Hitchcocks Psycho für das besser Werk halten könnte. Doch der Roman bietet insbesondere hinsichtlich der Charakterisierung seiner Figuren einige interessante Motive, die im Film nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Keiner kennt keinen: Motive und Figurenkonstellation bei Bloch
Bloch hatte am Fall Gein vor allem fasziniert, dass selbst in einer solch überschaubaren Gemeinde niemand etwas von dessen Verbrechen geahnt hatte. Diese Idee des Unbekannten im Anderen greift Bloch in seinem Roman immer wieder auf. Und er beschränkt sie keineswegs auf die Figur des Norman Bates. Denn nicht nur Norman Bates ist ein Verbrecher: Mary Crane ist es genauso. Denn schließlich unterschlägt sie 40.000 Dollar eines Kunden, die sie im Auftrag ihres Arbeitgebers (Mr. Lowery) zur Bank bringen sollte. Auch ihr hat niemand solch eine Tat zugetraut: Ihr Chef gibt ihr vertrauensvoll 40.000 Dollar mit, da er überzeugt davon ist, dass seine langjährige Angestellte sie auf direktem Wege zur Bank bringt. Ihr Verlobter und ihre Schwester Lila glauben ebenso an Marys Unschuld. Dementsprechend gereizt reagieren sie auch auf die Anschuldigungen des Detektivs Arbogasts:
„Lila biss sich auf die Lippen. ‚Meine Schwester ist keine Verbrecherin. Sie haben nicht das Recht, so über sie zu reden. Sie können nicht mal beweisen, dass sie das Geld genommen hat. Vielleicht hat Mr. Lowery es selbst eingesteckt.’“8Robert Bloch: Psycho. 3. Aufl. Hamburg: 2020. S. 75.
Sam und Mary sind anders als bei Hitchcock sogar verlobt. Aber letztlich basiert diese Beziehung eher auf Wünschen, Träumen und etwas erotischer Anziehungskraft und nicht auf echter Anerkennung des Anderen. Intensiv Zeit miteinander verbracht haben Mary und Sam lediglich während der Urlaubsreise, bei der sie sich kennengelernt haben. Sam stellt das im Verlaufe der Ermittlungen selbst immer wieder fest:
„Manchmal fragte er sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, so weit im Voraus zu planen. Was wussten sie schließlich schon voneinander? Einmal abgesehen von ihrer gemeinsamen Kreuzfahrt und den beiden Tagen, die Mary letztes Jahr hier verbracht hatte, waren sie nie zusammen gewesen. Natürlich gab es die Briefe, aber die machten es nicht besser. Denn in den Briefen hatte Sam eine andere Mary kennengelernt – eine launische, fast schon mürrische Person, die sich allzu sehr von ihren Antipathien leiten ließ und zu Vorurteilen neigte.“9Robert Bloch: Psycho. S. 68.
Die allmählich einsetzende Erkenntnis, dass die ausgelassene Mary aus dem Urlaub nur einen kleinen Teil ihrer Persönlichkeit darstellt, mag einer der Gründe dafür sein, dass Sam sich im Vergleich zu Marys Schwester deutlich weniger engagiert bei der Suche nach der Vermissten zeigt. Etwas, was Lila auch kritisiert. Ironischerweise hatte Sam Lila bei ihrer ersten Begegnung sogar fest in seine Arme schließen wollen, weil er sie im Halbdunkeln mit Mary verwechselt hatte. Er konnte seine eigene Verlobte also nicht mal von deren Schwester unterscheiden!
Was Bloch hier skizziert, ist weit entfernt vom Idealbild eines leidenschaftlichen Liebespaars. Sam orientiert sich bei seiner Lebensplanung eher an dem, was er glaubt, einer Frau bieten zu müssen, und weniger an dem, was Mary wirklich will. Diese ist sogar bereit, für eine finanziell abgesicherte Zukunft mit Sam ein Verbrechen zu begehen. Hätte Sam sich häufiger mit der tatsächlichen Mary beschäftigt und mit ihren Bedürfnissen, dann wäre er längst auf die Idee gekommen, dass er sie nicht über Jahre hinhalten kann, bis seine Schulden abbezahlt sind und er sich bereit für die Rolle als Ehemann und Versorger fühlt. Das hat Sam allerdings nie getan und so kennt er auch ihre Verzweiflung nicht und traut Mary dementsprechend zunächst keinen Diebstahl zu.
Menschen im Schatten ihrer Eltern: Die Biografien in Blochs „Psycho“
Das Unvermögen, die Motive der eigenen Mitmenschen richtig zu deuten, ist ein zentrales Motiv in Blochs Roman. Und er rückt es gekonnt ins Licht. So verpasst er den drei Figuren Mary, Norman und Sam sehr ähnliche Biografien: Alle drei empfanden ihren Eltern gegenüber ein tiefes Pflichtgefühl. Bei Norman ist dieses am offensichtlichsten und ins Krankhafte verzerrt. Selbst als Erwachsender lebte er noch bei seiner Mutter und sie ist seine einzige Vertrauensperson. Statt gegen ihre einengenden Vorgaben zu rebellieren, gibt er ihnen nach und richtet seine Existenz ganz auf die Mutter aus. Anders als bei Hitchcock erfährt man im Roman auch mehr über Marys Mutter. Diese war erkrankt und als junge Erwachsene übernimmt Mary deren Pflege sowie die Erziehung ihrer jüngeren Schwester Lila.
Ja, aus Familiengefühl finanziert Mary ihrer kleinen Schwester sogar das College. Sam hingegen erbt von seinem Vater einen Eisenwarenladen, aber mit diesem erbt er auch die Schulden seines Vaters. Der Laden läuft inzwischen zwar gut, doch die Schulden abzuzahlen, wird Sam Jahre seines Lebens kosten.
Alle drei Figuren verpassen aufgrund des Verhältnisses zu ihren Eltern die Chance, die sogenannten besten Jahre zu nutzen. Sie sind Ende 30 oder Anfang 40 und hatten bislang keine Möglichkeit, eigene Lebensziele zu entwickeln oder ihre bestehenden Ziele zu verwirklichen. Wider besseren Wissens half Norman Bates seiner Mutter bei der Führung eines Motels, dessen Untergang für ihn absehbar war. Der Bau eines neuen Highways war bereits geplant und die Straße zum Motel würde bald kaum noch befahren werden. Mary vergewissert sich im Spiegel immer wieder ihrer körperlichen Attraktivität. Denn in ihren Zwanzigern hatte sie kaum Gelegenheit, interessante Männer kennenzulernen, schließlich musste sie sich um ihre Familie kümmern. Und Sams konservatives Pflichtgefühl und das schuldenbelastete Erbe seines Vaters zwingen ihn zu einem Leben permanenter Arbeit. Die Urlaubsreise, auf der er Mary kennengelernt hatte, war ein Lotteriegewinn. Ohne diesen wäre er gar nicht auf die Idee gekommen, sich Urlaub zu gönnen. Und nachdem er Mary kennengelernt hat, bleibt auch für sie kaum Zeit übrig. Auch bei ihm verhindert die tote Elternfigur eine glückliche Beziehung.
Der Roman gewinnt durch diese Geschichten etwas Tragisches, denn obwohl ihre Schicksale sich so stark ähneln, schaffen die Figuren es nicht, die Motive der anderen richtig zu deuten oder miteinander auszukommen. Kurz nachdem Mary, die ihr Leben für ihre Mutter aufgeopfert hat, zum Schluss kommt, dass ihre Erlebnisse trotzdem kein Verbrechen rechtfertigen und sie das gestohlene Geld wieder zurückbringen will, wird sie von Norman Bates ermordet. Denn Norman Bates erkennt in dieser Frau, die wie er lange Zeit das Wohl ihrer Mutter über das eigene Wohl gestellt hat, am Ende nur eine lüsterne Schlampe.
Keine der Figuren hat die Fähigkeit, sich selbst im Anderen zu erkennen, obwohl sie alle Ähnliches durchlitten haben. Hätten sie nur einmal länger miteinander geredet, wäre ihnen diese Gemeinsamkeiten vielleicht bewusst geworden. Doch nicht einmal Sam schafft dies, obwohl Mary die Frau ist, die er heiraten will.
Roman versus Film: Ein Fazit zu „Psycho“
Die Parallelen in der Figurenzeichnung sind meiner Meinung nach das, was den Roman gegenüber dem Film auszeichnen. Während Hitchcock hier nur andeutet, zeichnet Bloch ein klares Bild seiner Figuren. Allerdings lässt sich nicht wegleugnen, dass Bloch sich im Verlaufe des Romans vor allem deswegen so stark an den falschen Fährten in Richtung Mutter abarbeiten muss, weil sein Norman Bates recht früh verdächtig und psychisch gestört wirkt. Hitchcock gelingt es hier deutlich eleganter, das Publikum an der Nase herumzuführen.
Wie sich allerdings ein durchgängiger Verriss des Romans mit gleichzeitiger Anbetung des Films verträgt, ist für mich schwer nachzuvollziehen, schließlich nutzt der Film nahezu die gesamte Handlungsstruktur des Romans.
Letztlich verraten solche Verrisse damit auch weniger über das Werk an sich, als vielmehr über die Unfähigkeit vieler Kritiker, ein Werk zu loben ohne ein anderes abzuwerten. Denn die Kritiken zu Blochs Roman waren positiv, bevor der Film erschien. In der New York Times hieß es gar, Bloch würde sogar die literarischen Schrecken eines Poes oder Lovecrafts übertreffen. Auch die Tageszeitung Herald Tribune berichtete positiv. Doch mit dem Erfolg des Films begann die zunehmende Abwertung der Vorlage.
Im einem Nachwort zu Psycho erzählt Bloch übrigens von einem Fall, der verdeutlicht, wie sehr die Medien ihn zugunsten Hitchcocks in den Schatten drängten. So bat man ihn, zum 30. Jubiläum von Psycho ein Fernseh-Interview zu geben. In diesem erzählte Bloch, was ihn zum Roman inspiriert hätte. Natürlich berichtete Bloch dabei auch von dem Fall Ed Gein. Allerdings wurde das Interview selbst nie gezeigt, nicht mal Blochs Name wurde in der Sendung erwähnt. Den Inhalt des Interviews nutzten die Macher aber durchaus. Die Reporter präsentierten das, was sie von Bloch erfahren hatten, später stolz als „Hitchcocks Inspiration“.10Vgl. Robert Bloch: Psycho. S. 188 f.
Ironischerweise wird der Wankelmut der Kritiker aber auch an der Bewertung des Films deutlich. Denn während Blochs Roman direkt nach der Veröffentlichung in der renommierten New York Times hochgelobt wurde, gab es für Hitchcocks Film zunächst Verisse: Bosley Crowther bezeichnete Psycho als einen übelerregenden Schandfleck in der Karriere des Regisseurs. Doch dann wurde der Film ein Welterfolg, begeisterte das Publikum und spielte Millionen ein. Und nur wenige Monate später konnte man in der New York Times lesen, wie der Filmkritiker Crowther Psycho zu den besten Filmen des Jahres rechnete.
Robert Bloch indes nahm sein Los mit Humor: Im letzten Interview vor seinem Tod meinte er lakonisch, dass es ja hätte schlimmer kommen können: Denn wenigstens hatten sie die Filmrechte ja nicht gleich für das erste Angebot verkauft.
Auf den Aspekt, dass Psycho trotz seiner unbestreitbaren Qualitäten auch Wegbereiter des Klischees vom Transgender-Serienkiller war, konnte ich aufgrund der Komplexität dieses Themas kaum eingehen. Wobei der am Ende des Films auftretende Psychologe deutlich zwischen Transvestitismus und dissoziativer Persönlichkeitsstörung unterscheidet. Nichtsdestotrotz entstand in den Folgejahren das Klischee des mordenden Crossdressers, wobei in den wenigsten Filmproduktionen exakt zwischen den unterschiedlichen Formen der Geschlechtsinkongruenz und dissoziativer Identitätsstörung unterschieden wurde. Da das Thema eigentlich einen eigenen Artikel wert wäre, mein Vorwissen aktuell aber noch nicht ausreicht, einen solchen zu schreiben, verweise ich an dieser Stelle auf Lindsay Ellis Video zum Thema Transphobie, in dem sie unter anderem auch die Filme Psycho und Das Schweigen der Lämmer bespricht.
Literaturverzeichnis
Bloch, Robert: Psycho. 3. Aufl. Hamburg: 2020.
Farin, Michael & Schmid, Hans: Ed Gein: A Qiet Man. München: 1996.
Rebello, Stephen: Hitchcock und die Geschichte von Psycho. Übers. v. Lisa Kögeböhn, Bernhard Matt und Uli Mayer. 2. Aufl. München: 2013.
Bildnachweise
Sämtliche Bildrechte an den hier gezeigten Szenenbildern aus „Psycho” liegen bei Universal Studios.
Will Hart, Robert Bloch with His Award, beschnitten von Marius Tahira, CC BY 2.0.
Filmmaterial
Alfred Hitchcocks Psycho (1960). Drehbuch: Joseph Stefano. Regie: Alfred Hitchcock. München: Columbia Tristar Home Video: 1999. (DVD-Video. Länge: 104 Min.)