Gefälschte Erinnerungen: Gedächtnismanipulation in modernen Dystopien

Frauenbild über das eine transparente Darstellung des Gehirns gelegt wurde

Unsere Erinnerung prägen unsere Identität. Was wir glauben, erlebt zu haben, beeinflusst unseren Charakter und unser Zugehörigkeitsgefühl. Insbesondere letzteres ist auch für totalitäre Staatssysteme interessant. Und Beispiele, wie diese das Gedächtnis der Menschen zu ihren Gunsten beeinflussen können, liefert uns die dystopische Literatur dutzendfach.

Dystopien handeln von fiktiven Gesellschaften, die sich zum Negativen entwickelt haben. Wie die Horrorliteratur spiegeln sie die Ängste der Menschen wider. Doch sie konzentrieren sich stärker auf aktuelle gesellschaftliche Fehlentwicklungen als auf menschliche Urängste. Und so ist es bezeichnend, dass ab dem 20. Jahrhundert die gezielte Gedächtnismanipulation zum prägenden Thema in dystopischen Erzählungen wird. Mit welchen Methoden dort sowohl das individuelle als auch das kollektive Gedächtnis manipuliert werden, erfährst Du in diesem Artikel.

Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde die utopische Literatur dominiert von Entwürfen einer idealen Welt. Das beeinflusst den Sprachgebrauch bis heute, denn meist wird eine Utopie“ mit einem positiven, aber unerreichbaren Idealbild gleichgesetzt. Eigentlich bezeichnet der Begriff aber nur die Darstellung einer fiktiven Gesellschaft, die abseits der wirklichen Welt existiert. Ist diese Gesellschaft besser als unsere reale, dann handelt es sich um eine „Eutopie“ (guter Ort). Ist die dargestellte Gesellschaft schlechter, dann spricht man von einer Dystopie“ (schlechter Ort). Der aus dem Griechischen abgeleitete Begriff „Utopie“ bedeutet lediglich so viel wie „Nichtort“, was unterstreicht, dass die Handlung in einer Gesellschaft abseits der Realität stattfindet. In der Alltagssprache werden die Begriffe „Eutopie“ und „Utopie“ aber fast immer gleichgesetzt. 

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nehmen die positiven Gesellschaftsentwürfe in der Literatur immer mehr ab. Die dystopische Literatur hingegen gewinnt an Bedeutung. In ihren Erzählungen greifen die Schriftsteller jener Zeit die Tendenzen staatlicher Unterdrückung und des aufkeimenden Technologie-Missbrauchs auf. Ihr Ziel war es, vor den gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zu warnen. Insbesondere die Manipulation des kulturellen Gedächtnisses wird Kernthema dystopischer Literatur.

Zwang zum Kollektiv: Dystopien im Schatten des Faschismus

Viele der im 20. Jahrhundert entwickelten Dystopien sind spürbar vom Gedanken an die Systeme des Nationalsozialismus und Stalinismus geprägt. Das verdeutlicht insbesondere ein Hauptmerkmal dystopischer Erzählungen, das Stephan Meyer als den „Zwang zum Kollektivismus“ bezeichnet:

„Anti-Utopisten scheinen besessen von dem Gedanken, die Zukunft müsse eine Gesellschaft mit sich bringen, die dem Individuum keinen Raum mehr läßt. Dabei werden Verfahren des Terrors, der totalen Überwachung und sogar Eingriffe in die Physis und Psyche des Menschen prophezeit.“1Vgl. Stephan Meyer: „Die anti-utopische Tradition. Eine ideen- und problemgeschichtliche Darstellung“. 2001. S. 45.

Die Machthaber in Dystopien wollen, dass sich die Bürger allein dem Kollektiv des Staates zugehörig fühlen. Daher versuchen sie, ein System zu etablieren, in dem jegliche Erinnerung an staatliche Verfehlungen ausgelöscht wird. Zu diesem Zweck sollen sowohl das kollektive Gedächtnis als auch das individuelle jedes Einzelnen manipuliert werden.

Geschichtsfälschung und Geschichtseliminierung

Dem Kulturwissenschaftler Jan Assmann zufolge setzt sich das kollektive Gedächtnis aus zwei Teilbereichen zusammen: dem kommunikativen Gedächtnis und dem kulturellen Gedächtnis.2Jan Assmann: „Das kulturelle Gedächtnis“. 4. Aufl. – München: 1992. S. 56

Bücherverbrennung als übliches Herrschaftsmittel in Dystopien wie Fahrenheit 451.
Bücherverbrennung Sinne der Obrigkeit. Der Eindruck der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft spiegelt sich in vielen Dystopien deutlich wider.

Das kommunikative Gedächtnis entsteht durch Alltagskommunikation. Jemand hat etwas erlebt und erzählt es anschließend Freunden und Familie. So entwickelt sich eine „Erinnerungsgemeinschaft“. Das kulturelle Gedächtnis hingegen bewahrt gemeinschaftsprägende Ereignisse der älteren Vergangenheit. Dies geschieht beispielsweise über Bücher, Riten und überlieferte Traditionen. Es erfasst somit weitaus größere Zeiträume als das kommunikative Gedächtnis.

Beide Formen des Gedächtnisses sind in Dystopien vielfältigen Manipulationen ausgesetzt. So beschreiben die drei dystopischen Romane „Schöne neue Welt“, „1984“ und „Fahrenheit 451“ allesamt Gesellschaften, in denen kulturelle Hinweise auf die Vergangenheit in ihrer Bedeutung herabwürdigt, vernichtet oder umgestaltet werden.

Konditionierung zum Bücherhass und zur Wissenschaftsskepsis

Die Figur Weltaufsichtrates Mustafa Mannesmann (im engl. Original Mond) aus Aldous Huxleys Roman „Schöne neue Welt“ fasst die im fiktiven Weltstaat verbindliche Haltung zur Geschichtsforschung folgendermaßen zusammen: „Geschichte ist Mumpitz.“ Das erklärt er wortwörtlich einigen Studenten, die an einer Führung durch die Вrut- und Normzentrale teilnehmen.

Dort erzieht man in sogenannten Neo-Pawlowschen Normungssälen bereits Kleinkindern per Konditionierung eine Abscheu gegen Literatur an, indem man ihnen elektrische Schocks versetzt, sobald sie sich ihnen vorgesetzten Büchern nähern!

In den Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts verfassten Dystopien nehmen die Machthaber das Wissen um die Vergangenheit fast immer als stabilitätsbedrohend wahr. Denn die Geschichtsschreibung wie auch die Kunst ermöglichen es den Menschen, eine Perspektive außerhalb des etablierten Staats- und Wertesystems einzunehmen. Und aus dieser Perspektive heraus könnten sie womöglich noch Kritik an dem System äußern! Beseitigt man aber jegliche Spur historischen Wissens und künstlerischer Imagination, bleibt der Mensch auf Informationen angewiesen, die ihm der Staat liefert. Der Erhalt des Staatssystems wird als wertvoller erachtet als die Suche nach Wahrheit. Dies verdeutlicht auch eine Aussage, die der Weltaufsichtsrat Mannesmann gegenüber dem Protagonisten Helmholtz Holmes-Watson (im engl. Original Helmholtz Watson) tätigt:

Pflicht ist nun einmal Pflicht. Man kann sich nicht von seinen Neigungen leiten lassen. Ich suche die Wahrheit, ich liebe die Wissenschaft. Aber Wahrheit ist eine Bedrohung, Wissenschaft eine öffentliche Gefahr.“3Aldous Huxley: „Schöne neue Welt“. 1979. S. 165.

Neben der schöngeistigen Literatur gilt auch die Wissenschaft als potenzielle Bedrohung und wird überwacht. Wissenschaftliche Arbeit beschränkt sich auf technisch notwendige Bereiche.

In Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ ist fast sämtliche Art von Literatur verboten. Ausgenommen sind nur praktisch nutzbare Werke wie Fachliteratur sowie anspruchslose Comics. Eine spezielle Organisation, die in der deutschen Übersetzung ironischerweise als Feuerwehr bezeichnet wird, spürt die wenigen noch vorhandenen Bücher auf, um sie an Ort und Stelle zu verbrennen.


Die Verfilmung von „Fahrenheit 451“ aus dem Jahr 1966 enthält einen zynischen Seitenhieb auf den Nationalsozialismus, in dessen Namen ebenfalls Bücherverbrennungen stattfanden. Die Szene, in der einer der „Feuerwehrmänner“ erläutert, dass aufwühlende Bücher ohne Nutzwert verbrannt werden sollten, endet mit einem Bild von Hitlers Mein Kampf„. 

Medienmanipulation und die Vernichtung historischer Dokumente

Auch in George Orwells „1984“ sind vielen Formen der Literatur verboten. Doch tritt dort noch direkte Geschichtsfälschung als Merkmal der dystopischen Politik hinzu. In keinem anderen Roman widmen sich Regierungsbehörden so akribisch der Vernichtung und Manipulation historischer Dokumente. Die Staatsdiener spüren alte Medienprodukte auf, um sie auszuwerten und anschließend zu vernichten oder nachträglich zu verändern. Bücher, Presseerzeugnisse und anderen Propagandamittel werden ausschließlich vom sogenannten „Wahrheitsministerium“ produziert.

Die Hauptperson des Romans, Winston Smith, arbeitet in der Dokumentationsabteilung des Ministeriums für Wahrheit, wo er Geschichtsverfälschung für den Staat betreibt. Im Auftrag des Ministeriums schreibt er Presseberichte im Sinne der aktuellen Parteipolitik um. Die alten Zeitungsausgaben werden vernichtet und nur die gefälschten Versionen bleiben als Archivexemplare erhalten. Widersprüchlichkeiten im Parteivorgehen sind so im Nachhinein nicht mehr belegbar. Das kulturelle Gedächtnis erliegt in „1984“ einer totalen „Manipulation durch ein engmaschiges Netz von Verwaltung und strikter hierarchischer Ordnung.4Stephan Meyer: „Die anti-utopische Tradition“. S. 434.

In allen drei genannten Dystopien wird dem kulturellen Gedächtnis die wesentliche Grundlage entzogen: schriftliche Quellen. Für die Bewohner der dargestellten Gesellschaftssysteme ist die historische Wirklichkeit damit kaum noch nachzuvollziehen.

Reduktion der Sprache in modernen Dystopien

In der dystopischen Literatur widerspricht die historische Wahrheit häufig den politischen Verlautbarungen. Oft erkennen die Protagonisten dies erst durch ihre individuellen Erfahrungen, die der politischen Propaganda widersprechen. In den meisten Erzählungen verbleiben sie angesichts dieser Erkenntnis aber nicht in grüblerischer Einsamkeit. Stattdessen suchen sie den Kontakt zu anderen Menschen mit systemkritischer Haltung. In „Fahrenheit 451“ bewahrt der „Feuerwehrmann“ Guy Montag heimlich Bücher bei sich auf. Später wendet er sich an den pensionierten Literaturprofessor Faber, weil er sich von diesem Hilfe erhofft. Winston Smith aus „1984“ findet in seiner Geliebten Julia eine Gleichgesinnte im Hass gegen die Parteiführung. In beiden Romanen schließen sich Menschen zu Erinnerungsgemeinschaften zusammen, um die Erinnerung an politische Gräuel durch mündliche Kommunikation am Leben zu erhalten.

In einigen dystopischen Gesellschaften haben die Herrschenden jedoch Methoden entwickelt, die Bildung solcher systemkritischen Gemeinschaften zu erschweren. Der Staatsapparat aus George Orwells „1984“ versucht beispielsweise, jede Systemabweichung unmöglich zu machen, indem er eine vereinfachte Sprache etabliert – das sogenannte „Neusprech“. Ganze Wortfamilien werden auf einen Ausdruck reduziert oder gänzlich ausgelöscht: beispielsweise die Worte Freiheit und Liebe. Der Sprachwissenschaftler Syme erläutert seinem Bekannten Winston Smith den Zweck dieser Sprache:

Du erfaßt die Schönheit einfach nicht, die in der Vernichtung liegt. Ist dir überhaupt klar, daß Neusprech die einzige Sprache der Welt ist, deren Vokabular von Jahr zu Jahr schrumpft? […] Begreifst du denn nicht, daß Neusprech nur ein Ziel hat, nämlich den Gedankenspielraum einzuengen? Zu guter Letzt werden wir Gedankendelikte buchstäblich unmöglich machen, weil es keine Wörter mehr geben wird, um sie auszudrücken.5George Orwell: „1984“. 2003. S. 66 f.

Die neue Sprache soll das Vokabular für Systemkritik auf ein Minimum reduzieren. Die alten Worte würden schließlich dem Vergessen anheim fallen. Selbst wenn ein Bürger die Fehlbarkeit der herrschenden Schicht persönlich erlebt hätte, könnte er somit niemanden mehr davon erzählen. 

Künstliche Erinnerungen in den neueren Dystopien

Der in den 80er-Jahren einsetzende Computer-Boom beeinflusste die dystopische Literatur maßgeblich. Künstliche Intelligenz, die Erweiterung des Menschen durch technische Implantate und die virtuelle Welt bilden neue Motive dystopischer Erzählungen.

In seinem 1968 erschienenem Roman „Träumen Androiden von elektrischen Schafen“ beschreibt Philip K. Dick eine Gesellschaft, in der Androiden mit künstlicher Intelligenz existieren. Diese dürfen sich jedoch nur auf dem kolonisierten Mars aufhalten, da die Erdbevölkerung sie als Bedrohung ansieht. Der Protagonist Rick Deckard jagt und liquidiert als eine Art Kopfgeldjäger Androiden, die illegal eingewandert sind. Vielen Androiden hat man während der Produktion künstliche Erinnerungen einprogrammiert. Aus diesem Grund gehen sie irrigerweise davon aus, sie seien Menschen. Die einzige Möglichkeit für Deckard, solche Androiden zu enttarnen, besteht in einem standardisierten Empathietest. Dieser überprüft, ob das Gegenüber auf provozierende Fragen eine typisch menschlich-emotionale Reaktion zeigt.

Als ein Androide Deckard fragt, ob dieser sich jemals selbst dem Test unterzogen habe, bejaht Deckard das. Daraufhin entgegnet der Androide: „Vielleicht ist das nur eine falsche Erinnerung. Laufen Androiden nicht manchmal mit falschen Erinnerungen herum?6Philip K. Dick: „Blade Runner“. 2007. S. 117. Seit der Verfilmung mit dem Titel „Blade Runner“ wird der Roman häufig nicht unter seinem sperrigen Originaltitel, sondern dem Filmtitel vermarktet.

In den zuvor beschriebenen Dystopien war es den Menschen noch möglich, die von der Obrigkeit behauptete historische Wirklichkeit aufgrund persönlicher Erfahrungen zu hinterfragen. Nun wird die Wahrhaftigkeit eben solcher individueller Erinnerungen selbst in Frage gestellt.

In William Gibsons 1984 publizierten Roman „Neuromancer“ gesteht die frühere Prostituierte Molly einem Freund, dass sie sich freiwillig einen Hirnchip hat implantieren lassen. Dieser übernahm bei Treffen mit Freiern die Kontrolle über ihren Körper. Später hat er die Erinnerung daran unterdrückt: „Ist zunächst ein Kinderspiel, denn sobald sie dir den Unterbrecher-Chip einpflanzen, ist’s locker verdientes Geld. […] Du bist nicht dabei, wenn’s passiert.7Neuromancer“. 1997. S.194.

Ghost-Hacking und digitale Erinnerungen im Manga

Major Kusanagi aus Ghost in the Shell setzt sich einen Nackenstecker ein. Ob der Manga als Dystopie zu werten ist, ist strittig.
In „Ghost in the Shell“ wird das Gehirn technisch aufgerüstet. Das bietet den Betroffenen viele Vorteile (Informationen lassen sich ohne langes Lernen einfach einspeichern), aber sie können theoretisch auch gehackt werden. Das Konzept wurde später im Film „Matrix“ aufgegriffen.

Wesentliche Impulse hinsichtlich der Frage, wie neue Technologien die Erinnerung beeinflussen können, entstammen den Dystopien japanischer Comics. Auch in „Ghost in the Shell“ von Masamune Shirow ist es den Menschen möglich, Teile des Hirns durch künstliche Implantate zu ersetzen. Über eine Schnittstelle im Nacken können sie sich dann in den Cyberspace einzuloggen – eine von Computern generierte künstliche Welt. Derart modifizierte Menschen sind jedoch auch durch Ghost- bzw. Brain-Hacking angreifbar. Das heißt, ihre Erinnerungen lassen sich auf elektronischem Wege verändern.

Noch extremere Fälle menschlicher Modifizierung findet man in Yukito Kishiros „Battle Angel Alita“. Die titelgebende Figur Alita ist ein Cyborg, hat also einen komplett künstlichen Körper. Lediglich ihr Gehirn ist organisch. Die Welt in „Battle Angel Alita“ ist streng hierarchisch aufgebaut. Auf der Erde leben die Menschen in den chaotischen Verhältnissen der sogenannten Schrottstadt. Ihre Bürger müssen Bauteile für Maschinen notdürftig aus dem Schrott heraussuchen, den die über der Metropole schwebende, hochtechnisierte Himmelsstadt „Zalem“ abwirft.8Vgl. Yukito Kishiro: „Battle Angel Alita. Band 1–9“. Hamburg: 2000–2001 und ders.: „Battle Angel Alita. Last Order. Volume 1“. Hamburg: 2003.

Die Bewohner Schrottstadts haben keinerlei direkten Kontakt zu Zalem. Sie versorgen die schwebende Stadt lediglich über Pipelines mit Nahrung. Zalem selbst ist wiederum nur der untere Teil der Orbitalstation „Jeru“, in der die eigentlichen Machthaber residieren.

Vom Geist in der Maschine und Menschen ohne Hirn

Im Verlauf der Geschichte erfährt Alita, dass die Zalemer Bürger im Alter von 19 Jahren einen Initiationsritus durchlaufen. Bei diesem entnimmt man ihnen ihre organischen Gehirne. Als Ersatz wird ihnen ein programmierbarer Hirnchip implantiert. Auf diesen überträgt man die im Gehirn gespeicherten Erinnerungen. Die Zalemer selbst wissen davon nichts. Der Initiationsritus wird maschinell durchgeführt und die Erinnerung daran gelöscht.9Siehe Yukito Kishiro: „Battle Angel Alita. Band 9“. 2001. S. 15.

In der durch und durch technisierten Welt von Alita zeigt sich, dass äußere Eindrücke und persönliche Erinnerungen keine verlässliche Quellen für die Wahrheit sind. Die menschlich erscheinenden Zalemer sind komplett ihres organischen Gehirns beraubt, ihre digitalisierten Erinnerungen jederzeit veränderbar. Alitas offenkundig künstlicher Körper hingegen birgt ein immer noch menschliches Hirn.


Szene aus Battle Angel Alita: Jugendlichem wird das Hirn durch einen Chip ersetzt.
Die Kontrolle der Zalemer in „Battle Angel Alita” erfolgt so tiefgreifend wie in kaum einer anderen Dystopie: Nicht nur Medien und Kultur werden manipuliert, sondern auch der Körper. Vor der Geburt wird der genetische Code der Menschen festgelegt und den Jugendlichen später ihr organisches Gehirn entnommen und durch einen programmierbaren Hirnchip ersetzt.

Fazit: Dystopien als Teil des kulturellen Gedächtnisses

Wie die obigen Beispiele verdeutlichen, widmen sich die jüngeren Dystopien vor allem der Frage, inwieweit neue Technologien die Identität des Menschen bedrohen. Mit Ausnahme von „Battle Angel Alita“ zeichnen sie hingegen kaum noch das Bild eines totalitären Staates wie die älteren Romane „1984“ und „Schöne neue Welt“.

Die Dystopien, die sich so häufig mit der Manipulation des Gedächtnisses auseinandersetzen, bilden somit selbst Teil des kulturellen Gedächtnisses. Und zwar den, in dem sich die Ängste ihrer Entstehungszeit offenbaren. So spiegeln die frühen Dystopien unverkennbar die Erfahrungen mit totalitären Systemen wider. Die jüngsten Dystopien hingegen warnen uns vor einer anderen Gefahr: der Entmenschlichung des Menschen im technisierten Computerzeitalter.








Mamoru Oshiis Verfilmung des Mangas Ghost in the Shell“ enthält zahlreiche Überlegungen,  was die Identität eines Menschen ausmacht. Ebenso thematisiert der Film, ob Identität überhaupt noch ans Menschsein gebunden ist, wenn Menschen sich durch technische Implantate den Maschinen immer stärker annähern, ihre Erinnerungen digital veränderbar sind und auf der anderen Seite Maschinen durch KI lernen, eigenständig zu denken. Da Film und Manga die technischen Anwendungen nicht durchgängig als negativ kennzeichnen, ist allerdings fraglich, inwieweit man „Ghost in the Shell“ überhaupt als Dystopie bezeichnen kann.




Literaturverzeichnis

Primärliteratur

  • Bradbury, Ray: „Fahrenheit 451“. 12. Aufl. – München: 2009.
  • Dick, Philip K. : „Blade Runner“. 5. Aufl. – München: 2007.
  • Gibson, William: „Neuromancer“. 7. Aufl. – München: 1997.
  • Huxley, Aldous: „Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft“. Frankfurt: 1979.
  • Kishiro, Yukito: „Battle Angel Alita. Band 1 – 8“. Hamburg: 2000 – 2001.
  • Ders.: „Angel Alita. Last Order. Volume 1“. Hamburg: 2003.
  • Orwell, George: „1984“. 24. Aufl. – München: 2003.
  • Shirow, Masamune: „Ghost in the Shell. Band 1. Schrottdschungel“. 2. Aufl. – Stuttgart: 1995.

Sekundärliteratur

  • Assmann, Jan: „Das kulturelle Gedächtnis“. 4. Aufl. – München: 1992.
  • Beck, Rudolf / Kuester, Hildegard / Kuester, Martin: „Basislexikon anglistische Literaturwissenschaft“. Stuttgart; Paderborn 2007.
  • Meyer, Stephan: „Die anti-utopische Tradition. Eine ideen- und problemgeschichtliche Darstellung“. Frankfurt am Main; Berlin; Bern; Bruxelles; New York; Oxford; Wien: 2001 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur; Bd. 1790).

Bildnachweis

  • Titelbild: Foto erstellt von geralt auf Pixabay
  • Bild des brennenden Buches: Foto erstellt von Movidagrafica auf Pixabay.
  • Bild des Nackensteckers im Manga „Ghost in the Shell“: Entnommen aus: Masamune Shirow: „Ghost in the Shell. Band 1. Schrottdschungel“. 2. Aufl. – Stuttgart: 1995. S. 11.
  • Bild der Hirnchip-Transplantation in Alita Battle Angel“: Entnommen aus: „Battle Angel Alita. Band 9. Hamburg: 2001. S. 15.

Hinweis: Dieser Blog-Beitrag basiert im Wesentlichen auf meinem gleichnamigen Artikel in Nr. 20 der Kritischen Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik & Literatur. Die 2011er-Ausgabe widmete sich dem Thema „Gedächtniskunst. Ich habe den Text an einigen Stellen stilistisch bearbeitet, die Einleitung neu verfasst und zusätzliche Bilder eingefügt. Der Original-Artikel enthält aber deutlich mehr Verweise auf die wissenschaftliche Diskussion und weiterführende Forschungsliteratur.



Autor: Marcel Egbers

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