Die Liebe ist ein zentrales Thema der Weltliteratur – das gilt in besonderem Maße für die bedrohte Liebe. Shakespeares „Romeo und Julia“ erzählt die Geschichte eines Liebespaares, das an äußeren Widerständen scheitert. Für die meisten heutigen Leser relevanter dürfte allerdings – trotz ihres märchenhaften Charakters – die Geschichte von Undine sein, denn in ihr scheitert die Beziehung nicht an verfeindeten Familien, sondern an Eifersucht, nachlassender Leidenschaft und den Charakterschwächen der Beteiligten. Also im Grunde aus ähnlichen Gründen, aus denen bis heute immer wieder Beziehungen scheitern. Möglicherweise war es diese Aktualität des Undine-Stoffes, die Günter de Bruyn veranlasst hat, der mehr als 200 Jahre alten Vorlage sprachlich ein neues Gewand zu verpassen.
Undine ist eine europäische Sagenfigur, die seit dem Mittelalter überliefert ist. In allen bislang veröffentlichten Geschichten wird sie als weiblicher Wassergeist beschrieben, der in menschlicher Gestalt unter Menschen lebt. Sie taucht in zahlreichen Erzählungen auf und hat viele Geschichten um liebesgeplagte Meerjungfrauen beeinflusst: Sei es Hans Christian Andersons „Die kleine Meerjungfrau“ oder Oscar Wildes „Der Fischer und seine Seele“. Die im deutschsprachigen Raum einflussreichste Geschichte, in der Undine auch namentlich auftritt, ist zweifelsohne das gleichnamiges Kunstmärchen „Undine“ aus dem Jahre 1811.
Dieses Kunstmärchen aus der Feder des brandenburgischen Adligen Friedrich de la Motte Fouqué hat der Schriftsteller de Bruyn als Vorlage für seine Geschichte – für seine „neue Undine“ – genommen. Es ist seine letzte Arbeit: De Bruyn starb im Oktober 2020, ein Jahr bevor seine Geschichte als Buch veröffentlicht wurde.
Darum geht es in Die neue Undine
Die Geschichte um Undine beginnt bei de Bruyn wie auch bei Fouqué mit einem alten Fischer-Ehepaar. Dieses Paar hat eine Tochter, die es jedoch durch ein Unglück verliert – das Kind scheint im nahegelegenen See ertrunken zu sein. Als wolle das Schicksal diesen Verlust wiedergutmachen, begegnet den Fischern bald darauf jedoch das junge Mädchen Undine. Da Undine allein in der Natur umherläuft und keine Familie zu haben scheint, beschließen die Fischer, sie als ihre eigene Tochter großzuziehen.
Jahre später verschlägt es einen Ritter in die Region. Ein plötzliches Unwetter und ein über die Ufer tretender Fluss zwingen ihn, bei den Fischern unterzukommen. Dort begegnen sich der Ritter und Undine; und sogleich ist es um beide geschehen: Sie verlieben sich und heiraten bald darauf. Am Tag der Hochzeit gesteht Undine dem Ritter, dass sie eigentlich kein Mensch, sondern ein Wassergeist sei. Und die Gesetze der elementaren Geister würden es verlangen, Untreue mit dem Tod zu bestrafen. Den frisch verliebten Ritter schreckt das nicht. Er ist überzeugt, dass seine Liebe zur hübschen Undine niemals nachlassen wird.
Gemeinsam mit ihr verlässt der Ritter das Fischerpaar, um wieder in die Zivilisation – in die Stadt zurückzukehren. Dort lebt allerdings auch Bertalda, eine junge Frau, die der Ritter noch vor seiner Reise an den See kennengelernt hatte. Zwischen Undine, Huldbrand und Bertalda entfaltet sich eine Dreiecksbeziehung, in der Undine droht, die Liebe ihres Mannes zu verlieren. Doch Undines Onkel – ein ebenso mächtiger wie skrupelloser Wassergeist – verfolgt dieses Treiben und ist gar nicht gut auf jene Menschen zu sprechen, die seine Nichte hintergehen. Was einst als leidenschaftliche Liebe zwischen Ritter und Wasserfrau begann, droht in einen Strudel aus Missgunst und Eifersucht unterzugehen. Und über all dem droht das Gesetz der Wassergeister, die Untreue mit dem Tod ahnden.
De Bruyns Die neue Undine ist eine sprachlich modernisierte Version des Stoffs
Im Original ist der Handlungsort nicht genau bezeichnet, jedoch liegt die Burg des Ritters nahe der Donau-Quelle. Der Schriftsteller de Bruyn hat jahrelang in Berlin gearbeitet, später aber die ländliche Zurückgezogenheit des brandenburgischen Umlands dem Großstadttrubel vorgezogen. In eben jene Region verlegt er auch das Märchen um Undine: Das Ehepaar besucht bei de Bruyn den Spreewald, sein Ritter heißt nicht wie im Original Huldbrand von Ringstetten, sondern wird zu Jobst von Strele – einem Edlen aus der Niederlausitz. Für viele, die sich im Brandenburgischen auskennen, ist das sicher ein Gewinn, denn die Geschichte schwebt so nicht länger im Märchenhaft-Diffusen, sondern man kann sich recht genau vorstellen, wo die Handlung stattfindet.
Auch andere Anpassungen tun der Geschichte gut. Das betrifft insbesondere die sprachliche Gestaltung, denn bei allem Respekt für Fouqués schriftstellerisches Können: Sein adjektiv-lastiger, oft von Bandwurmsätzen geprägter Sprachstil dürfte heutzutage nur wenige Leser begeistern. De Bruyn verschlankt die Sprache, wodurch sich die Geschichte weitaus flüssiger liest. Allerdings behält er den märchenhaften Duktus bei. „Die neue Undine“ ist also kein Roman, der mit inneren Monologen, Innensichten und Perspektivwechseln zur psychologischen Vertiefung aufwartet.
Hier eine Gegenüberstellung zweier Textstellen, die das erste Aufeinandertreffen des Ritters und Undines beschreiben.
Da flog die Thüre auf, und ein wunderschönes Blondchen schlüpfte lachend herein, und sagte: Ihr habt mich nur gefoppt, Vater; wo ist denn nun Euer Gast? – Selben Augenblicks aber ward sie auch den Ritter gewahr, und blieb staunend vor dem schönen Jünglinge stehn. Huldbrand ergötzte sich an der holden Gestalt, und wollte sich die lieblichen Züge recht achtsam einprägen, weil er meinte, nur ihre Ueberraschung laße ihm Zeit dazu, und sie werde sich bald nachher in zwiefacher Blödigkeit vor seinen Blicken abwenden. Es kam aber ganz anders. Denn als sie ihn nun recht lange angesehn hatte, trat sie zutraulich näher […].1Friedrich de la Motte Fouqué: Undine“, in: Günter de Bruyn: „Die neue Undine. Ein Märchen, nacherzählt dem verehrten Baron de la Motte Fouqué auf Schloss Nennhausen im Havelland“. Frankfurt am Main: 2021. S. 67.
Diese Textpassage entstammt dem Original aus dem Jahre 1811. Bei de Bruyn hört sich das Ganze hingegen folgendermaßen an:
Nachdem der Ritter an die Tür geklopft und diese nach Aufforderung geöffnet hatte, musste er einige Sekunden wie festgebannt stehen bleiben, weil er im Halbdunkeln der Stube zuerst Undines schönes Gesicht erblickte, das vom offenen Herdfeuer beleuchtet war. Erst als ein Windstoß durch die offene Tür fegte und das Feuer zum Flackern brachte, fand er seine Sprache wieder, trat näher und schloss die Tür.2Günter de Bruyn: „Die neue Undine“. Frankfurt am Main: 2021. S. 17 f.
Die zweite Fassung ist sehr viel knapper, verrät allerdings auch weniger über die Figuren. Und auch was die Handlungsstruktur betrifft, stutzt de Bruyn die Verästelungen des Originals, in dem viele Schlüsselereignisse rückblickend erzählt werden. De Bruyn hingegen erzählt seine Geschichte chronologisch. Auch das nützt dem Lesefluss, doch raubt es wahrscheinlich einigen Lesern die ein oder andere Überraschung. Denn was mit der verschollenen Fischerstochter passiert ist, deutet de Bruyn im zweiten Kapitel schon so deutlich an, dass kaum ein Leser den Hinweis übersehen dürfte. Fouqué hingegen lässt seine Leser mehr als 40 Seiten zappeln, bevor er dieses Geheimnis lüftet.
Die Charaktere werden in moderner Weise geglättet – und verlieren so an Tiefe
Die Figuren in Fouqués Erzählung zeigen oft solch extreme Eigenschaften, dass sie Stereotypen gleichen: Undine ist vor ihrer Heirat eine naturnahe, erotische Kindfrau, nach der Heirat das brave Frauchen am Herd. Der Beschützerinstinkt des Ritters richtet sich immer auf die gerade schwächste Frau, und Bertalda ist eifersüchtig und intrigant. Solche Zuschreibungen mögen überspitzt sein, aber sie erlauben es dem Leser, sich innerhalb der recht kurzen Geschichte ein klares Bild von den Charakteren zu machen. Und noch aus einem anderen Grund ist diese Charakterisierung Fouqués keine Schwäche, sondern eine Stärke: Dadurch, dass er bestimmte Eigenschaften der Figuren überbetont, schafft er eine zweite Deutungsebene. Der tragische Ausgang, auf den die Geschichte zusteuert, beruht eben nicht nur auf dem schicksalhaften Fluch der Wassergeister. Nein, die handelnden Figuren haben durch ihre Fehler und Charakterschwächen ganz entscheidend selbst dazu beigetragen, dass die Erzählung auf ein unglückliches Ende zusteuert.
Ein entscheidender Vorteil der Fischer-Ausgabe ist, dass sie beide Geschichten enthält. So kann man Fouqués und de Bruyns Versionen vergleichen und sich selbst ein Urteil bilden. Und wer danach an einer tiefergehenden Analyse des Originals interessiert ist, findet ausführliche Informationen in meiner detaillierten Analyse von Fouqués Undine.
Im Gegensatz zu Fouqués scheut sich de Bruyn, seinen Frauen allzu viele negative Eigenschaften mitzugeben: Im Original ist Bertalda zwar in den Ritter verschossen, aber schickt ihn trotzdem weg, damit dieser erstmal seinen Wert durch eine Queste beweist. In „Die neue Undine“ ist Bertalda weitaus umgänglicher und es ist ihr Vater, der den flirtenden Ritter fortschickt. Und auch Undine wirkt weit weniger forsch und jugendhaft als im Original. Dass der Ritter sie später aufgrund ihrer schwindenden jugendlichen Erotik vernachlässigt, kommt in der neuen Version somit kaum zum Ausdruck. Und im Original verrät Undine dem Ritter erst nach der Hochzeit, dass ihm bei Untreue der Tod droht. Bei de Bruyn warnt eine hochanständige Undine ihn schon vorher. Durch solche Glättungen wirken die Figuren sympathischer, aber auch blasser. Und die eigentliche Kernbotschaft wird verwässert. Obwohl Fouqués Geschichte aus dem Jahre 1811 stammt und de Bruyns aus dem Jahre 2021, entwickelt sich das Unglück bei Fouqués sehr viel stärker aus den Charakteren heraus und nicht allein aufgrund mystischer Elementarmagie.
Fazit zu de Bruyns „Die neue Undine“
Ein Urteil über de Bryns Neuinterpretation der Undine zu fällen, ist schwer. Insbesondere, weil sich kaum sagen lässt, wer eigentlich die angedachte Zielgruppe ist. Und auch deswegen, weil bei der Beurteilung immer auch ein Vergleich mit dem Original mitschwingt. Die Modernisierung von Fouqués ausladendem Sprachstil spricht für die Absicht, den Undine-Stoff dem gegenwärtigen Publikum schmackhaft zu machen. Für die meisten Kinder dürfte die Erzählung allerdings zu bedrückend sein, die Beziehungsränke der Erwachsenen ihnen zu fremd. Doch um ein erwachsenes Publikum zu begeistern, hätte man bei sprachlicher Modernisierung gleichzeitig auch den Inhalt vertiefen müssen. Beispielsweise in Form eines Romans, der die psychologischen Prozesse der Figuren genauer beleuchtet und so die Stärken der Vorlage weiter ausbaut. De Bryn bleibt aber bei der Gattung des Märchens und glättet nicht nur die Sprache, sondern auch die Figuren. Und beraubt damit der Geschichte ihrer wesentlichen Stärken.
Dennoch kann man seine Geschichte durchaus empfehlen. Nämlich all jenen, die gerne ein melancholisches Märchen in leicht verständlicher und trotzdem poetischer Sprache lesen möchten. Und dass die Neuinterpretation dem Original an inhaltlicher Tiefe hinterherhinkt, sollte einem vom Kauf des Buches nicht abhalten. Denn das enthält schließlich beide Versionen: die von de Bruyn und das Original von Fouqué . So kann man beide Geschichten in einer liebevoll illustrierten Ausgabe erhalten und selbst entscheiden, welche Version man besser findet.
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Titel: Die neue Undine
Autoren: Günter de Bruyn, Friedrich de la Motte Fouqué
Verlag: S. Fischer Verlag
ISBN: 978-3-10-397041-8
Format: Gebunden
Seitenanzahl: 160 Seiten
Erschienen: Oktober 2021