Typische Motive des Tierhorrors
Laut Georg Seeßlen und Fernand Jung lassen sich die meisten Tierhorrorfilme zwei Hauptmotiven zuordnen:
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- dem Motiv der menschlichen Verwandlung: Eine der Hauptfiguren durchlebt eine Metamorphose. Entweder sie verwandelt sich in ein Tier oder es handelt sich um einen verfluchten Menschen, dessen Rückverwandlung (zumindest theoretisch) möglich ist.
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- der Rache des veränderten Tieres: Auch bei diesem Motiv gibt es eine Verwandlung, denn as Tier hat sich durch Magie oder wissenschaftliche Experimente verändert. Es wird besonders groß, aggressiv oder gewinnt annähernd menschliche Intelligenz. Eine tasächliche Menschwerdung findet aber nicht statt. Allenfalls entwickelt sich das Tier zu einem grotesken Mischwesen – oft gewinnt es aber nur an besonderen Fähigkeiten und Körpergröße. Im Verlaufe des Films rächt sich das Tier dann an jenen Menschen, die zuvor Natur und Tierwelt ausgebeutet haben.1Vgl. Georg Seeßen und Fernand Jung: „Horror. Geschichte und Mythologie des Horrorfilm“. S. 584–586.
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Eng mit diesen zwei Hauptmotiven verbunden sind zwei weitere Motive, die viele Horrorfilme prägen:
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- das Motiv der ausgelebten Animalität: In zahlreichen Geschichten, in denen sich Menschen in Tierwesen verwandeln, verändert sich nicht nur deren äußere Gestalt. Vielmehr werden auch die bislang kulturell unterdrückten „animalischen Instinkte“ nach der Verwandlung voll ausgelebt. Sämtliche sozialen Normen verlieren an Bedeutung: Konkurrenten und Widersachern wünscht man nicht nur in Rachefantasien das Schlechteste, sondern bringt sie kurzerhand um. Auch der Hunger treibt den Verwandelten oft bis zum Mord. Und wenn zu den Lieblingsopfern vieler Tiermenschen leichtbekleidete, attraktive Frauen gehören, ist das kaum noch verschlüsseltes Symbol ihrer zügellosen sexuellen Lust.
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- das Motiv des von Gier und Forschungsdrang getriebenen Ausbeuters: Dieses Motiv schwingt beim Motiv des sich rächenden, verwandelten Tieres automatisch mit. Kritik an wissenschaftlicher Forschung ohne moralische Grenzen oder gewissenlose Kapitalisten ist aber nicht auf solche Filme beschränkt, in denen monströse Tiere zuvor Opfer menschlichen Handels waren. Der Horrorfilm bedarf nicht zwangsläufig radioaktiv verseuchter oder gentechnisch veränderten Monstrositäten, um Kritik am menschlichen Handeln zu äußern.
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Die obengenannten Merkmale lassen sich in zahlreichen, aber keineswegs in allen Tierhorrorfilmen finden. Interessanterweise gehen die gängigen Horrormotive häufig damit einher, dass das Tier menschliche Eigenschaften hinzugewinnt. Es verändert sich zur anthromorphen Bestie oder geht rachegetrieben statt instinktgelenkt vor.
Allerdings gibt es auch Ausnahmen, in denen die Tiere sich (im Rahmen filmischer Konventionen) weitestgehend natürlich verhalten. In solchen Filmen entsteht das Grauen durch die Konfrontation des Menschen mit einer mitleidlosen und ihm körperlich weit überlegenen Tierwelt. Je weniger ungewöhnliche Merkmale das bedrohliche Tier aufweist, desto schwieriger wird allerdings die Genre-Zuordnung. Die Frage ist dann, wann der Tierhorror aufhört und der Survival-Thriller beginnt? Bei den folgenden Beispielen für die unterschiedliche Motivbehandlung in Tierschockern habe ich auf eine Unterscheidung zwischen Horrorfilmen und Survival-Thrillern allerdings verzichtet.
Durch Werwolfsbiss oder Wissenschaft: Die Verwandlung in Tiere und Tiermenschen
Einer der frühen Klassiker der Horror- und gleichzeitig dystopischen Literatur greift das Motiv der Tierverwandlung auf, ohne dabei auf Okkultismus und Werwolfflüche zu verweisen: Die Insel des Dr. Moreau. In diesem Roman von H.G Wells spielt das sogenannte Tiervolk eine tragende Rolle. Dabei handelt es sich jedoch nicht um verwandelte Menschen. Vielmehr hat der Biologe Moreau auf einer abgelegenen Insel damit begonnen, Experimente an Tieren durchzuführen. Durch chirurgische Eingriffe zwingt er sie zum aufrechten Gang und verleiht ihnen menschliche Züge. Veränderungen des Gehirns und Hypnose sollen die Kreaturen zum menschlichen Denken befähigen. Die Veränderung und Manipulation des Tiervolkes bildet den Hintergrund für eine Erzählung, die sowohl die Frage nach den ethischen Grenzen der Wissenschaft stellt als auch die Zerbrechlichkeit kultureller Errungenschaften illustriert.
Und während „Die Insel des Dr. Moreau“ von einem Wissenschaftler handelt, der Tiere zu Tiermenschen umoperiert, erzählt George Langelaans Kurzgeschichte „Die Fliege“ von einem Wissenschaftler, der sich aufgrund eines Unfalls selbst in ein Tier verwandelt. Der Forscher Robert Browning arbeitet an der Entwicklung eines Teleportationsgeräts. Bei einem Selbstversuch übersieht er jedoch, dass sich außer ihm auch eine Fliege in dem Teleportationsgerät befindet. Während des Teleportationsprozesses kreuzt seine Maschine dann beide Lebewesen. Browning erhält dadurch nicht nur ein monströses Äußeres, sondern verliert auch die Fähigkeit, zu sprechen. Eine sehr originalgetreue Adaption ist die Verfilmung mit Vincent Price. Wie in der Kurzgeschichte wird das Fliegenmonstrum hier als tragische Gestalt porträtiert, aber keinesfalls als bösartig. In der Neuverfilmung von David Cronenberg vollzieht sich die Verwandlung deutlich langsamer: Der Protagonist durchlebt eine widerwärtige Metamorphose, die von den Maskenbildnern ebenso eindrucksvoll wie ekelerregend in Szene gesetzt wird. In dieser Adaption ist der Protagonist zwar ebenfalls eine tragische Figur, doch schwindet mit der körperlichen Transformation auch seine Menschlichkeit: Der Wissenschaftler handelt zunehmend wie ein mitleidloses Insekt.
Ebenso beeindruckend wie das Make-up in „Die Fliege“ sind auch die handgemachten Special Effects im Horrorklassiker „American Werewolf“. In diesem ist kein wissenschaftliches Experiment Ursache der Verwandlung, sondern ganz klassisch der Biss eines Werwolfs.
Die 1986er-Verfilmung von „Die Fliege“ inzeniert die Verwandlung des Forschers deutlich detaillierter als das Original von 1958 und setzte damit neue Maßstäbe im Bodyhorror. In beiden Filmen hat der Protagonist aber ursprünglich nachvollziehbare und positive Ambitionen, bevor er sich in ein monströses Mischwesen verwandelt.
Monströs veränderte Tiere als Rache der geschundenen Natur
Für diesen Motivkomplex ein einzelnes Beispiel herauszusuchen, erscheint angesichts der puren Masse entsprechender Filme etwas willkürlich. Denn es gibt zahllose Filme, in denen Tiere durch menschliches Wirken erst zu gigantischer Größe heranwachsen und dann Jagd auf ihre früheren Peiniger machen. Alternativ sind die Tiere in einigen Horrorfilmen besonders intelligent oder unnatürlich aggressiv. Aber ihre außergewöhnlichen Eigenschaften wurden ihnen immer von Menschen verliehen und diese enden dann als Beute der von ihnen geschaffenen Monströsitäten:
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- Im bereits erwähnten Schwarz-Weiß-Klassiker „Tarantula“ führen Laborversuche an eingesperrten Tieren dazu, dass eine Spinne ins Gigantische wächst und dann eine Wüstenstadt terrorisiert.
- In „Tödliche Bienen“ züchtet ein Bienenzüchter Killerbienen heran, die er als Mordinstrument nutzen will.
- Im 70er-Jahre-Film „Die Mörderspinnen“ hat der rücksichtslose Einsatz von Insektenschutzmittel dazu geführt, dass die hiesigen Vogelspinnen keine Insekten mehr als Nahrung fanden. Infolgedessen greifen sie daraufhin Menschen und Nutztiere an.
- In „Piranhas“ züchteten selbstgefällige Militärs besonders agressive Prianhas heran, die sie im Vietnamkrieg einsetzen wollten. Dummerweise entkommen die Fische und fressen brave amerikanische Bürger statt böser Vietcongs.
- In „Der Horror-Alligator“ findet ein Mädchen ein Alligatorjunges und nimmt es als Haustier mit nach Hause. Als sein Vater es entdeckt, spült er den Mini-Alligator kurzerhand die Toilette hinunter: hinab in eine Kanalisation, in der der Alligator auf Hundeleichen stößt. Den Hunden hatten Forscher Wachstumspräparate gespritzt und die missglückten Versuche in der Kanalisation entsorgt. Als der Alligator von den toten Hunden frisst, wächst er zu gigantischer Größe heran.
- In „Deep Blue Sea“ verändern zwei Wissenschaftler ohne Absprache mit ihrem Forschungsteam an der DNS mehrerer Makkohaie, wodurch deren Gehirnvolumen zunimmt und sie intelligenter werden. Intelligent genug, um einen Ausbruchsplan auszutüfteln und dann ihre Peiniger einem nach dem anderen zu verschlingen.
Eine besondere Betrachtung verdient der 1955 erschiene SciFi-Horrorfilm „Formicula“. Denn dieser Film war der erste Horrorfilm, in dem Insekten durch Mutation zu riesiger Größe heranwuchsen. Er war damit Vorreiter für zahlreiche weitere Vertreter des Insektenhorror. Doch anders als die Filme der 70er-Jahre spiegelt er weniger die Angst vor skrupellosen Chemie-Konzernen und Gentechnikern wider, sondern wie der im selben Jahr erschienene „Godzilla“ die Furcht vor den unkontrollierbaren Risiken atomarer Waffen. Denn in „Formicula“ sind die Ameisen auf einem Testgelände für Atomwaffen über die Jahre durch die radioaktive Strahlung mutiert und erreichen nun eine Größe von mehreren Metern. Dass deren Insektenstaat aus Riesenameisen dann unter amerikanischen Städten im Verborgenen neue Kolonien gründet, lässt sich problemlos als Sinnbild der damaligen Angst vor einer kommunistischen Unterwanderung deuten.
Mitleidlose Schwarminsekten als Symbol für die Amerika unterwandernden Kommunisten: „Formicula“ gehört zu den wenigen Tierhorror-Filmen, die stärker vom Kalten Krieg und der Atomangst geprägt sind als vom Umweltgedanken.
Animalische Triebe: Sexualität und Zerstörungslust im Tierhorror
In Horrorfilmen ist das verwandelte Mischwesen, oft Symbolfigur für Menschen, deren Triebhaftigkeit sich zerstörerisch Bahn bricht. Mal mehr mal weniger subtil schwingt dabei fast immer eine sexuelle Komponente mit. Plötzlicher Haarwuchs, der Zuwachs an Größe und Stärke und die unbändige Lust, junge Frauen zu verschlingen: Die Verwandlung des Werwolfs lässt sich in vielen Geschichten durchaus als übersteigert pessimistische Darstellung der männlichen Pubertät deuten. Allerdings ist das Motiv der Pubertät als Zeit des sexuellen Erwachens keineswegs auf Männer beschränkt. Auch in den wenigen Horrorfilmen mit weiblichen Werwölfen geht das Aufkeimen sexueller Lust mit destruktiven Verhaltensweisen einher.
Pubertät, sexuelles Erwachen und der Fluch der Lykanthropie sind im Film „Ginger Snaps“ eng miteinander verwoben.
So erfolgt im kanadischen Horrorfilm „Ginger Snaps“ die Verwandlung in einen Werwolf bezeichnenderweise unmittelbar nach der ersten Regelblutung der Protagonistin Ginger Fitzgerald. Die von Katharine Isabelle dargestellte Teenagerin entwickelt während ihrer nachfolgenden Metamorphose ein bisher ungewohntes sexuelles Verlangen und entfremdet sich durch ihr zunehmend skrupelloses Verhalten immer mehr von ihrer jüngeren Schwester Emily. Pubertäre Veränderung und Werwolfsfluch sind in diesem Film stark miteinander verknüpft, und die Geschichte illustriert, wie rücksichtslos ausgelebte Triebhaftigkeit selbst die starken Bande zwischen zwei Geschwistern gefährden kann.
Das Thema Sexualität spielt aber auch in literarischen Werwolferzählungen eine Rolle – beispielsweise in dem Roman „Der Werwolf von Paris“. In seinem 1934 veröffentlichten Roman erzählt der Schriftsteller Guy Endore vom Jungen Bertrand, der durch eine Vergewaltigung gezeugt wurde. Seine Mutter Josephine war Opfer ihres Beichtvaters und wurde von diesem in einem brutalen Akt geschwängert. Als 9 Monate später das Dienstmädchen schließlich Bertrand gebiert, hat der Säugling behaarte Handinnenflächen und zusammengewachsene Augenbrauen.2Zur Verarbeitung des Werwolf-Motivs in dieser Geschichte siehe auch: Hans Richard Brittnacher: „Ästhetik des Horrors“. Frankfurt am Main: 1994. S. 201 f. Als Bertrand heranwächst, mehren sich die Funde getöteter Tiere in seinem Heimatdorf. Schnell gerät der Junge in Verdacht. Sein abergläubischer Ziehvater lässt ihn daraufhin über Jahre isoliert von den anderen Jugendlichen aufwachsen. Irgendwann kommt es jedoch doch zum Unabwendbaren: Bertrands gewaltvoller Neigungen brechen erneut hervor – bezeichnenderweise nach einem Bordellbesuch beim spielerischen Biss einer Prostituierten. In der Großstadt Paris und während der Wirren eines Krieges kann Bertrand jedoch untertauchen und unerkannt weiter seinem Tötungsdrang nachgehen. Aber Bertrand wird von Selbstekel geplagt. Insbesondere, seitdem er eine Beziehung zur jungen Sophie begonnen hat. Denn immer wieder spürt er den Wunsch, sie als Objekt seiner Begierde zu zerfleischen und zu verschlingen …
Das Motiv der zerstörerischen Sexualität ist aber keineswegs auf die Figur des Werwolfs beschränkt, sondern prägt auch Geschichten um andere tierische Mischwesen oder Halbmenschen. Beispielhaft sei an dieser Stelle der Film „Cat People“ genannt, in dem die serbische Modezeichnerin Irena sich weigert, ihren Freund Oliver zu heiraten oder zu küssen. Sie glaubt einer alten Legende, laut der sie sich bei Erregung in einen Katzenmensch verwandeln und ihren Geliebten töten würde. Oliver zeigt sich verständnisvoll, aber vermutet (aus gutem Grund) eine irrationale Angst vor Sexualität bei seiner Freundin. Er bittet sie, eine Therapie zu beginnen. Irina verändert ihr Verhalten jedoch nicht und der Verzicht auf Sexualität führt zunehmend zur Entfremdung des Paares. Als Oliver sich schließlich von Irina trennen will, entfaltet Irinas Fluch tatsächlich seine Wirkung: Sie verwandelt sich in ein mörderisches Katzenwesen.
Anders als der Vampir setzen die genannten Tierkreaturen ihre Sexualität jedoch nie längerfristig manipulativ ein. Einem kurzen Gefühl des Machtrausches und der Lust folgen Verzweiflung, Reue und Selbstvorwürfe. Bertrand ekelt sich vor dem Lustmörder, zu dem er geworden ist, und Irina hat panische Angst, dass sie als Katzenmensch jene Leute tötet, die sie eigentlich liebt.
Der Aspekt der „animalischen Sexualität“ wird anders als in anderen Horrorfilmen in „Katzenmenschen“ nicht verschlüsselt oder nur im Subtext behandelt, sondern ist wesentliches Leitmotiv des Films.
Paul Schraders Remake „Katzenmenschen“ stellt sowohl die verführerische Nacktheit Irinas als auch ihre Gewalttaten drastischer als das Original dar. Die Katzenfrau tritt hier deutlich als Symbol einer verdrängten weiblich animalischen Sexualität auf.3Vgl. Ursula Vossen: „Katzenmenschen“, in „Filmgenres: Horrorfilm“, hrsg. v. Ursula Vossen. Stuttgart: 2009. S. 117. Allerdings ist Irina im Remake bereit, ihre sexuelle Lust aufzugeben und sich bis zur Selbstaufgabe zu unterwerfen, um ihrem Geliebten weiter nah sein zu können. Das Portal Filmdienst.de attestierte daher, dass der Film eine fragwürdige frauenfeindliche Ideologie vermittle, in der weibliche Sexualität als dämonische, destruktive Macht erscheine, die domestiziert werden müsse. So wenig sich leugnen lässt, dass Sexualität in „Katzenmenschen“ als destruktive Macht inszeniert wird, so deutlich wird ebenfalls, dass hier mit einer kompletten Unkenntnis des Horrorgenres geurteilt wurde. Dem Horrorgenre ist immanent, dass es negative, grausame und bedrohliche Elemente zeigt. Und das betrifft eben auch den Aspekt der Sexualität, wenn er wesentliches Thema eines Horrorfilms ist.
Aus der Darstellung negativer Ausformungen von Sexualität lässt sich aber nicht die Botschaft ableiten, dass alle Spielarten der Sexualität verdammenswert seien. So würde ja hoffentlich auch niemand aus einem Kriminalfilm über einen Beziehungsmord ableiten, der Film zeige, dass alle Beziehungen mit Mord enden! Der Vorwurf der Frauenfeindlichkeit ließe sich lediglich aufrechterhalten, wenn weibliche Sexualität deutlich negativer dargestellt würde als männliche. Das ist jedoch nicht der Fall: Auch bei Männern verändert sich mit der Verwandlung in einen Tiermenschen die Sexualität und wandelt sich ins Zerstörerische. Im Grunde ist bereits der „große böse Wolf“ aus Rotkäppchen im Grunde nichts anderes als die märchenhaft maskierte Version eines Vergewaltigers. Und so wundert es nicht, dass beispielsweise das surreale Horrormärchen „Die Zeit der Wölfe“ mit einer klaren Warnung an die Protagonistin endet, sich vor dem (Wer-)Wolf im Manne zu hüten:
Und die Moral von der Geschicht‘:
Mädchen, weich vom Wege nicht!
Bleib allein und halt nicht an;
Traue keinem fremden Mann!
Geh‘ nie bis zum bitt’ren Ende;
Gib Dich nicht in fremde Hände!
Deine Schönheit zieht sie an,
Und ein Wolf ist jeder Mann!
Merk Dir eines: In der Nacht
Ist schon mancher Wolf erwacht.
Weine um sie keine Träne!
Wölfe haben scharfe Zähne!
Horrorfilme konzentrieren sich also auch bei der Darstellung von Sexualität auf den „Worst Case“. Doch zumindest was die Figur des Tiermenschen betrifft, geschieht dies nicht auf eine sexistische Art. Denn zum einen machen die Filme recht deutlich, dass die dargestellte Verwandlung eine absolute Ausnahme darstellt, sodass man nicht von den verwandelten Mann oder der verwandelten Frau auf alle Männer oder alle Frauen schließen kann. Zum anderen liegt hier in dem Sinne keine ungleiche Bewertung vor, dass die Sexualität des Tiermenschen in fast allen Horrorfilmen unabhängig vom Geschlecht destruktiv in Erscheinung tritt. Damit ist die Darstellung sexuell getriebener Wolfs- und Katzenfrauen oft deutlich weniger sexistisch als die Inszenierung junger Schülerinnen und Studentinnen in Splatter- und Slasher-Filmen. Denn in letzteren werden junge Frauen häufig tatsächlich sexualisierter als ihre männlichen Begleiter dargestellt.
Wenn der Werwolf in „Zeit der Wölfe“ sich erst verwandelt, nachdem er halbnackt von dem deutlich jüngeren Mädchen einen Kuss eingefordert hat, dann bedarf es schon einiger interpretatorischer Anstrengung und Engstirnigkeit, um hier keine sexuelle Konnotation des Werwolf-Motivs zu erkennen.
Von Gier und skrupellosem Forschungsdrang: Das böse Tier und der noch bösere Mensch
Dass einer der vorangegangenen Abschnitte mit „Monströs veränderte Tiere als Rache der geschundenen Natur“ übertitelt ist, verdeutlicht schon, dass das Motiv des veränderten Tieres und das des skrupellosen Menschen meist Hand in Hand gehen. Denn wo die Natur sich rächen will, muss es auch einen Grund zur Rache geben. Und den liefern die Menschen in Tierhorrorfilmen in aller Regelmäßigkeit: Seien es Fabrikbesitzer oder Laborarbeiter, die ihre chemischen Abfälle in den nächsten Wald, die Kanalisation oder einen Fluss kippen, statt sie ordnungsgemäß zu entsorgen. Oder skrupellose Militärs, die Tiere gentechnisch verändern und zu Killermaschinen heranzüchten wollen. Oder ein Wissenschaflter beschließt in seinem übersteigertem Ehrgeiz, sämtliche Sicherheitsrichtlinien zu ignorieren und einigen Tieren seinen Chemiecocktail ohne Absprache mit den Kollegen zu spritzen.
In Filmen über monströs veränderte Tiere spielen skrupellose Wissenschaftler, Firmenbosse oder Politiker fast immer eine Rolle, da erst sie die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Tiere sich verändern. Das gilt für die von der US-Army herangezüchteten Piranhas aus dem dem gleichnamigen Film „Piranhas“ ebenso wie für die Waldtiere in „Prey – Vom Jäger zur Beute“. Letztere wachsen nur deswegen zu unnatürlicher Größe heran, weil die Menschen sich nicht darum scherten, dass ihre Pestizide das Trinkwasser der Tiere verseuchen.
„The Host“ ist ein Genremix aus Horror, Familiendrama und Komödie, in dem man dem grotesken Ungeheuer deutlich ansieht, dass es wohl ein durch Chemieabfälle mutierter Fisch ist.
Der koreanische Monsterfilm „The Host“ greift sogar ein reales Ereignis auf: Wenn zu Beginn des Films ein Assistenzarzt von seinem amerikanischen Vorgesetzten aufgefordert wird, Chemieabfälle einfach in den Fluss zu gießen, statt sie teuer zu entsorgen, dann ist das keine Fantasie eines Drehbuchschreibers, sondern schildert genau jene Praxis, die in Korea stationierte GIs an den Tag legten. Über 100 Liter giftiger Chemieabfälle wurden von US-Militärs nahe der Hauptstadt Seoul in den Han-Fluss gekippt. In „The Host“ führt das zur Entwicklung eines Flussmonsters, das zwar überaus gefährlich ist, aber in seiner Deformiertheit eben auch eher aussieht wie das Opfer eines Chemieunfalls und nicht wie eine überlegene Lebensform.
Doch auch in Filmen, in denen das Tier zwar außergewöhnlich groß und gefährlich ist, aber im Grunde keine künstliche Veränderung durchlief, spielt die Geldgier und Skrupellosigkeit der Führungselite mitunter eine Rolle. Ein populäres Beispiel dafür ist Steven Spielbergs Klassiker „Der weiße Hai“. Im Spielberg-Film weigert sich der Bürgermeister trotz vorangegangener Warnungen und Hai-Attacken, den Strand zu sperren, da dies in der Sommersaison einen zu großen finanziellen Verlust für die Stadt bedeuten würde. Nur aufgrund dieser Fehlentscheidung kommt es dann zu weiteren Hai-Opfern.
Tierhorror: Das Problem der alten Erzählmuster
Auffallend ist, dass trotz der seit 2018 wieder immens an Bedeutung gewinnenden Umweltbewegungen die alte Formel „Der Angriff der Tierwelt erfolgt als Reaktion auf skrupelloses menschliches Verhalten“ in ernst gemeinten Produtionen immer seltener genutzt wird. Vermutlich ist dieses Schema in den vergangenen Jahrzehnten so oft verwendet worden, dass ein Film kaum noch darauf aufbauen kann, ohne wie eine Parodie zu wirken. Das würde auch erklären, warum inzwischen so viele Tierschocker von vornherein als Horrorkomödien angelegt sind. So umschiffen die Filmteams dieses Problem und stellen sich gar nicht erst der Herausforderung, einen packenden Horrorfilm zu inszenieren, in dem nicht jeder Spannungsmoment unmittelbar durch augenzwinkernde Selbstironie untergraben wird.
Doch Filme wie „Shape of Water“ zeigen, das es möglich ist, die alten Motive zu variieren. In seinem Film verknüpft Regisseur Guillermo del Toro die Sexualität der amphibischen Kreatur nämlich nicht mit zerstörerischer Lust, sondern besetzt die Beziehung der Kreatur mit der Menschenfrau positiv. Und das Mischwesen ist auch nicht das Ergebnis skrupelloser Militärforschung, sondern lediglich ihr Opfer. Allerdings muss man auch feststellen, dass sich Filme durch eine positive Umkehr üblicher Horrormotive eben auch immer mehr vom Horrorgenre an sich entfernen. Wenn das Mischwesen oder Tier nicht länger bedrohlich, sondern nur unverstanden ist, dann mag das zu einer interessanten Filmhandlung führen. Nur sind solche Produktionen dann eben auch irgendwann eher phantastische Beziehungsdramen und kaum noch Horrorfilme.
Ob es im Bereich des Tierhorrors künftig noch Innovationen geben wird und sich irgendwann neue Motive zu den hier vorgestellten gesellen, kann nur die Zukunft zeigen. Bis dahin ist es aber sicher kein Fehler, sich an den alten Klassikern zu erfreuen.
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Literaturnachweise zum Artikel „Tierhorror“
- Brittnacher, Hans Richard: „Ästhetik des Horrors“. Frankfurt am Main: 1994.
- Seeßen Jung, Fernand und Seeßen, Georg: „Horror. Geschichte und Mythologie des Horrorfilms“. Marburg: 2006.
- Vossen, Ursula : „Katzenmenschen“, in „Filmgenres: Horrorfilm“, hrsg. v. Ursula Vossen. Stuttgart: 2009. S. 117.
Bildnachweise
- Titelbild: „Painting creepy wold“ von Christianmullerart auf depositphotos.
- Bild des Orang-Utan aus Illustration von Poes Kurzgeschichte „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ von Daniel Vierge creator QS:P170,Q627132, Daniel Urrabieta y Vierge – The Murders in the Rue Morgue, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons.
- Wolfsbild „wolf werewolf old cemetery night“ von Savvatexture auf depositphotos.
- Werwolfsbild „Werewolf of halloween background“ von Savvatexture auf depositphotos.
- Bildausschnitt aus dem Film „The Island of Dr. Moreau“, 1977. Rechte bei Metro-Goldwyn-Mayer.