Wer eine möglichst werkgetreue Comic-Adaption der Geschichten Lovecrafts sucht, der wird irgendwann zwangsläufig auf die Veröffentlichungen Gou Tanabes stoßen. Seine Geschichte „Schatten über Innsmouth“ spielt wie das Original in der titelgebenden Hafenstadt Innsmouth und erzählt von einem jungen Mann, dessen Neugier ihn immer tiefer in die dunklen Geheimnisse einer verfallenden Stadt hineinzieht.
Ein einzelner Reisender gerät auf seinem Weg nach Arkham in eine abgeschiedene Hafenstadt, in der die Bewohner seltsam degeneriert wirken. Eigentlich hatte er dort nur einen kurzen Zwischenstopp einlegen wollen. Doch nachdem der junge Mann wissbegierig Leute über Innsmouth‘ Vergangenheit ausgefragt hat, behauptet der einzige Busfahrer des Ortes, dass sein Fahrzeug einen Schaden hätte. So muss unser Protagonist gegen seinen Willen in einer Stadt bleiben, deren Bewohner ihn unaufhörlich aus ihren kalten fischartigen Augen beobachten …
In seinem Kurzroman „Schatten über Innsmouth“ vermengte der Schriftsteller H. P. Lovecraft zahlreiche typische Horrormotive: Ein einsamer Reisender in einer abgeschiedenen Gegend (ohne Möglichkeit, diese schnell zu verlassen) ist mit deren missgestalteten Einheimischen konfrontiert. Diese Konstellation erinnert an blutige Filmschocker wie „The Hills have Eyes“ oder „Wrong Turn“. Doch Lovecraft vollendete seine Geschichte bereits 1931 – also lange bevor die oben genannten Merkmale das Horrorkino prägten. Zudem deutet er blutige oder sexuelle Themen lediglich an und konzentriert sich stattdessen auf die morbide Atmosphäre der Stadt und den psychischen Verfall seines Protagonisten.
„Schatten über Innsmouth“ ist inzwischen der sechste Comic-Band, in dem Gou Tanabe eine Geschichte Lovecrafts zeichnerisch umsetzt. (Seine vorangegangene Publikation „Der Schatten aus der Zeit“ habe ich bereits hier rezensiert.)
Zum Inhalt von Gou Tanabes „Schatten über Innsmouth“
Im Prolog erfährt der Leser, dass im Auftrag der Regierung mehrere Hundert Einsatzkräfte zahlreiche Einwohner der Stadt Innsmouth inhaftiert haben. Die Gründe für diese Aktion wurden der Presse nie mitgeteilt. Die Geschichte wird aus Sicht des namenlosen Protagonisten erzählt, der in einer Rückschau über seine Erlebnisse im unheilvollen Innsmouth nachdenkt.
Seine Reise nach Innsmouth begann in Newburyport. Aus historischem Interesse und um mehr über die Heimat seiner Eltern zu erfahren, will er nach Arkham reisen. Da dem jungen Mann eine Zugreise jedoch zu teuer ist, befolgt er den Tipp eines Fahrkartenverkäufers: Eine sehr günstige Fahrgelegenheit sei der alte Bus, der über Innsmouth nach Arkham fahre. Als der Protagonist mehr über Innsmouth wissen möchte, berichtet der Verkäufer, dass die Stadt einen sehr schlechten Ruf habe. Es solle dort Teufelsanbeter geben – zudem würden die Einwohner unter einer seltsamen Krankheit leiden.
Doch diese Berichte machen den Protagonisten eher neugierig, als dass sie ihn abschrecken. Als er am nächsten Tag mit dem Bus nach Innsmouth fährt, fällt ihm umgehend das bizarre Äußere des Busfahrers auf: sein faltiger Hals, die großen, hervortretenden Augen und sein seltsam ungelenkter Gang. An Ende seiner Fahrt findet der Mann sich in einer größtenteils verlassenen Hafenstadt wider, in der viele Häuser bereits verfallen sind. Und während die Hinzugezogenen normal aussehen, erspäht der Protagonist in den älteren Häusern immer wieder Menschen, die noch deformierter wirken als sein Fahrer. Er beschließt, einen Stadtrundgang zu unternehmen, um mehr über die mysteriöse Stadt herauszufinden. Und tatsächlich erfährt er, welche schockierenden Ereignisse Innsmouth‘ Aufstieg und Niedergang bewirkten.
Als der Erzähler am nächsten Morgen weiterreisen will, ist der Bus angeblich beschädigt. So ist unser Protagonist gezwungen, in Innsmouth zu bleiben. Und er muss erkennen, dass er zu tief nach Geheimnissen gebohrt hat, die einige Personen lieber im Verborgenen wüssten …
Meine Bewertung des Mangas „Schatten über Innsmouth“
Wer beim Begriff „Manga“ ausschließlich an Schulmädchen mit überdimensionalen Kulleraugen denkt, wird von Tanabe eines besseren belehrt. Denn so wie Lovecraft seine Geschichten in einer detailliert beschriebenen, realistisch anmutenden Umgebung verortet, bedient sich auch Gou Tanabe eines eher realistischen Zeichenstils. Sein Markenzeichen ist dabei der Gebrauch von feinen Schattierungen und Rastern, die die düstere Atmosphäre Innsmouths eindrucksvoll widerspiegeln. Wenn der Protagonist durch die verkommenen Straßen zieht, vorbei an verfallenen Herrenhäusern und verottenden Hafenslums, dann springt seine Beklemmung auch auf den Leser über.
Der Manga umfasst fast 450 Seiten. Die sehr wenigen Farbseiten konnten mich nicht aufgrund ihrer teilweise sehr kräftigen, unnatürlich wirkenden Farbgebung nicht begeistern, doch die schattenreichen Schwarz-Weiss-Seiten passen hervorragend zur Stimmung der Geschichte.
Wer die Vorlage nicht kennt, aber ein Faible für sich langsam entwickelnden Horror hat, der von einem sich steigernden Gefühl der Paranoia geprägt ist, der kann hier bedenkenlos zugreifen. Was ist aber mit eingefleischten Lovecraft-Fans? Puristen, die sich eine Adaption möglichst nah am Original wünschen, kommen mit Gou Tanabes „Schatten über Innsmouth“ voll auf ihre Kosten. Wer die Originalgeschichte bereits kennt, darf aber nicht viel Neues erwarten. Tanabe orientiert sich hinsichtlich der Rahmenhandlung absolut an der Romanvorlage. Er nimmt nur minimale Änderungen vor, die insbesondere die Dialoge und die Reihenfolge einzelner Szenen betrifft. Doch diese Änderungen machen die Geschichte meiner Meinung nach sogar besser.
Während Lovecraft diese Szene ans Ende setzt, eröffnet Tanabe den Comic damit, dass der Erzähler mit einer Pistole in der Hand darüber nachdenkt, ob er sich angesichts des Erlebten erschießen soll, statt mit der Erinnerung daran weiterzuleben. Dadurch beginnt die Geschichte gleich mit einem Spannungshoch, was die Story aufgrund ihres eher gemächlichen Einstiegs durchaus aufwertet.
Darüber hinaus gestaltet Tanabe viele Gespräche als echte Dialoge, in denen der Protagonist auch mal nachhakt. Lovecraft ist Experte darin, mittels Andeutungen eine bedrohliche Stimmung zu schaffen. Doch unabhängig ihrer Herkunft sprechen seine Charaktere oft, als hätten sie ein geschichtswissenschaftliches oder anthropologisches Studium absolviert. Wenn ein einfacher Kartenverkäufer auf eine Frage nach Innsmouth mit einem siebenseitigen Monolog antwortet, wirkt das schlicht unpassend. Tanabe dampft diese Ausführungen zumindest etwas ein und lässt den Protagonisten auch mal Zwischenfragen stellen, wodurch die Dialoge deutlich lebensechter wirken.
Aufgrund der zeichnerischen Umsetzung sind einzelne Szenen zudem sehr viel expliziter als bei Lovecraft. Der Manga ist zwar weit davon entfernt, ein Splatterfest zu sein, aber von Gewalt wird nicht nur erzählt, sondern sie wird auch bildlich dargestellt.
Zu guter Letzt wäre da der sich in Lovecrafts Werk widerspiegelnde Rassismus. Damit ist nicht gemeint, dass „Schatten über Innsmouth“ in seiner Gesamtheit eine rassistische Botschaft hätte. Dennoch sind die Gedanken des Erzählers und das Vokabular der Nebencharaktere im Original immer wieder von Rassimus geprägt (der mit Lovecrafts eigenem Rassimus deckungsgleich sein dürfte).
Nun bin ich kein Freund davon, Geschichten zwangsweise zu glätten. Die glaubhafte Darstellung eines Rassisten macht nicht unbedingt das Werk an sich rassistisch. Aber in der Originalgeschichte wirken die rassistischen Überlegungen selbst für Menschen aus den 1920er- und 30er-Jahren teilweise grotesk. Sie tragen nicht zu einer glaubhaften Charakterisierung der Figuren bei. Wenn regelmäßig vermutet wird, dass die Einwohner Innsmouth aufgrund der Durchmischung mit einem Südseevolk so seltsam aussähen, wirkt das angesichts ihrer komplett widerwärtigen Erscheinung einfach nur absurd. Gou Tanabe tat daher gut daran, in seinem Manga die rassistischen Gedanken seiner Figuren auf ein Minimum zu reduzieren. So wirkt der Protagonist immer noch seiner Zeit verhaftet, aber auf die lovecraft’schen Rassentheorien hat Tanabe glücklicherweise komplett verzichtet.
Abschließend lässt sich sagen, dass ich die wenigen und behutsamen Änderungen Tanabes sehr überzeugend fand. Und damit ist es lediglich eine Geschmacksfrage, ob man die gezeichnete Explizität von Tanabes Manga vorzieht oder lieber das Original liest, das einen Raum lässt, im Kopf eigene Bilder zur Story zu erschaffen.
Fazit zu Gou Tanabes „Schatten über Innsmouth“
Mit „Schatten über Innsmouth“ schuf Gou Tanabe abermals die originalgetreue Manga-Umsetzung einer Lovecraftgeschichte. In detaillierten Zeichnungen fängt er gekonnt die morbide Atmosphäre einer heruntergekommenen Hafenstadt ein, die manch düsteres Geheimnis birgt. Der Horror entwickelt sich dabei langsam und konzentriert sich auf ein ständiges Gefühl der Bedrohung.
Die überlangen Monologe des Originals hat Tanabe etwas gestrafft, einige Szenen sind aufgrund ihrer grafischen Ausarbeitung expliziter als bei Lovecraft – aber die eigentliche Handlung entspricht vollständig jener der Vorlage. Freunden subtilen Horrors, die Original noch nicht kennen, kann ich diesen Band uneingeschränkt empfehlen. Lovecraft-Kenner müssen hingegen abwägen: Auf der einen Seite ist diese Adaption so werkgetreu, dass sie ihnen kaum Überraschungen bietet. Auf der anderen Seite dürften es inzwischen viele Fans schätzen, wenn eine Adaption von Respekt gegenüber der Vorlage geprägt ist und sie nicht komplett gegen den Strich bürstet. Und genau das bietet Tanabe: Eine Comic-Umsetzung, die den lovecraft’schen Horror perfekt in ein anderes Medium transportiert.
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Titel: SCHATTEN ÜBER INNSMOUTH. Meisterwerke von H.P. Lovecraft
Originaltitel: INNSMOUTH NO KAGE – Lovecraft Kessakushuu
Autor: Gou Tanabe
Übersetzer: Jens Ossa
Verlag: Carlsen Verlag
ISBN-13: 978-3551767172
Format: Softcover
Seitenanzahl: 448Seiten
Erschienen: Mai 2022 | Erstveröffentlichung: 2021