Joker und Taxi Driver: Zwei Filme, zwei Mörder. Warum wir nur mit einem mitleiden

Gegenüberstellung der Bilder von Arthur Fleck aus JOKER und Travis Bickle aus Taxi Driver

Zwei Filme, zwei Mörder. Sowohl der Film „Joker“ als auch „Taxi Driver“ erzählen die Geschichte einer sozialen Isolation. In beiden Filmen versuchen die männlichen Protagonisten, sich in eine Gesellschaft zu integrieren, die sie ablehnt. Und in beiden Filmen mündet das schließlich in einem blutigen Akt der Zerstörung. Und  doch erntet einer dieser Mörder deutlich mehr Mitgefühl als der andere.

Der Film Joker fand ein gewaltiges Medienecho: in den Zeitungs-Feuilletons, den Social Media und im Fernsehen. Trotz seines düsteren Themas und der Altersbeschränkung hat der Film über eine Milliarde Dollar eingespielt! Dabei erzählt er eigentlich keine wirklich neue Geschichte: Der Leidensweg eines Außenseiters, der sich immer stärker radikalisiert, wurde bereits in zahlreichen Filmen dargestellt. Aber Joker erzählt diese Geschichte nunmal überragend gut und wird dazu noch getragen von Joaquin Phoenix‘ großartigem Schauspiel.

Als im Kino der Abspann von Joker begann, war ich sofort überzeugt, dass ich gerade einen hervorragenden Film gesehen hatte. Der Film hat mich emotional gepackt und es geschafft, dass ich mit einer Figur mitfiebere, obwohl diese als rachezerfressener Killer endet. Doch schon im Kino fielen mir die zahlreichen Einflüsse von Scorseses Taxi Driver auf. Dessen Protagonist, Travis Bickle, durchlebt eine ähnliche Entwicklung wie Arthur Fleck, der spätere Joker. Aber das Ende von Taxi Driver fand ich in erster Linie verstörend, und statt Mitleid löste Travis Bickle in mir spätestens ab der Filmmitte nur noch Abscheu aus. Da habe ich mich gefragt: Warum ist das so? Beide Figuren enden als skrupellose Mörder. Warum weckt die eine Figur so viel mehr Mitgefühl und Empathie als die andere? Warum sind so viele Menschen stärker vom Joker fasziniert als von Travis Bickle? Einer Frage, der ich nachgehen möchte.

Vergleich Joker und Taxi Driver: Die optische Veränderung von Arthur Fleck zum Joker und von Travis Bickle zum Killer mit Irokesenschnitt dargestellt in vier Bildern.
In beiden Filmen geht die Radikalisierung der Hauptperson mit einer optischen Veränderung einher. (Joker-Bilder © WARNER BROS., Taxi-Driver-Bilder © Columbia Pictures Industries)

Geschichte zweier Außenseiter: Arthur Fleck und Travis Bickle

Was die grundsätzliche Konstellation betrifft, weisen Taxi Driver und Joker zahlreiche Parallelen auf. Und das gilt auch für die Protagonisten: Arthur Fleck und Travis Bickle gehören beide zur gesellschaftlichen Unterschicht bzw. unteren Mittelschicht. Beide leiden unter psychischen Problemen und haben in der Vergangenheit massive Gewalt erfahren. Beide sehnen sich nach einer glücklichen Beziehung mit einer Frau und Anschluss an die soziale Gemeinschaft. Auch hinsichtlich der Stimmung und des Handlungsverlaufes gibt es Gemeinsamkeiten, denn dem Zuschauer dürfte allein durch die Inszenierung früh klar sein, dass ihn hier kein klassisches Happy End erwartet. Spätestens als der Protagonist eine Pistole erwirbt, ahnt man, dass es irgendwann zur Eskalation kommt. Man sieht den beiden Figuren dabei zu, wie sie sich in einer Abwärstspirale immer weiter vom normalen Leben entfremden und der radikale Ausbruch immer näher rückt. 

Drehbuchautor und Regisseur Todd Philipps macht auch keinerlei Hehl daraus, dass ihm Taxi Driver als Inspiration diente. (Ebenso wie der Film King of Comedy. Mit Robert de Niro lässt er sogar den Hauptdarsteller beider Filme in Joker auftauchen). Viele ikonische Szenen aus Taxi Driver hat Philipps nahezu identisch in Joker übernommen. Andere hat er leicht abgewandelt.

Vergleich Joker und Taxi Driver: Zwei Kopfschussgesten aus Joker im Vergleich zur Kopfschussgeste in Taxi Driver

Die Kopfschuss-Geste in Joker ist eine von vielen Anspielungen auf Taxi Driver. (Erstes Bild © Columbia Pictures Industries, die anderen beiden © WARNER BROS.)

Die Figuren Travis Bickle und Arthur Fleck ähneln sich in einigen Aspekten ohnehin so stark, dass das unmöglich ein Zufall sein kann. Nachdem ihre Annäherung an die Gesellschaft gescheitert ist, wünschen sich beide zumindest während ihrer finalen Abrechnung Respekt. Sie wollen als selbstbewusste Rächer auftreten. So übt Travis Bickle mit seiner Pistole vor dem Spiegel coole Posen und Sprüche ein. Arthur Fleck hingegen studiert die Körpersprache eines vor Selbstbewusstsein strotzenden Prominenten in einer Fernsehshow. Und kopiert dessen Gestik, Mimik und Intonation. Bei beiden kommt es also keineswegs spontan zu einem Ausbruch der Gewalt, denn sie bereiten sich geradezu akribisch auf ihren (vermeintlich) letzten Auftritt vor.

 

Reaktionen auf einen Mörder: Faszination, Mitleid und bei einigen sogar Identifikation

Wenn man in der Fußgängerzone Passanten fragen würde, ob sie Verständnis für einen Serienmörder hätten, dürften die meisten das wohl verneinen. Zumindest die, die an den unabdingbaren Wert des Lebens glauben. Alle anderen könnten antworten, dass ihr Urteil von der Wahl seiner Opfer abhinge. Und was haben wir da auf der Habenseite beim Joker? Drei gewaltbereite Geschäftsmänner, seine im Krankenbett liegende Mutter, einen Arbeitskollegen, einen Showmaster und wahrscheinlich seine Therapeutin. Und die Reihenfolge, in der diese Opfer von Arthur Fleck getötet werden, ist hinsichtlich der Dramaturgie ebenso manipulativ wie clever. Denn mit jedem weiteren Mord nimmt die Schuld des nächsten Opfers ab:

Zunächst erwehrt sich Arthur Fleck gegen eine Truppe besoffener Anzugträger, die zuvor eine Frau belästigt haben und dann auf ihn einschlagen. Diese Männer sind nichts anderes als fleischgewordene toxische Maskulinität. Das nächste Opfer des Jokers ist seine Mutter. Die fügt ihm zwar aktuell kein Leid zu, hat aber während seiner Kindheit tatenlos mitangesehen, wie Arthur von ihrem Lcbebensgefährten misshandelt wurde. Dann folgt ein Arbeitskollege, der gelegentlich etwas egoistisch und unehrlich wirkt. Ein Showmoderator, der sich im Fernsehen über Arthur lustig gemacht hat. Zum Schluss wird angedeutet, dass Arthur seine Therapeutin umbringt.

Was sind im Gegensatz dazu die Opfer von Travis Bickle? Ein Ladenräuber und ein bewaffneter Zuhälter, der eine Kinderprostituierte auf den Straßenstrich schickt. Bewaffnete Schwerkriminelle auf der einen Seite, eine Therapeutin und ein witzereißender TV-Moderator auf der anderen Seite. Allein mit der Schuld seiner Opfer  lässt sich nur schwer erklären, warum Arthur Fleck bei vielen Zuschauern deutlich mehr Mitgefühl als Travis Bickle weckt.

Um hier bereit etwas vorzugreifen: Viel wichtiger scheint zu sein, ob die Opfer sich zuvor gegenüber dem Täter schuldig gemacht haben. Wir leiden schlicht deswegen weniger mit Travis mit, weil er selbst durch seine Opfer nie Leid erfahren hat.

 

Larger than Life: Das Außergewöhnliche fasziniert uns

Der Soziobiologe Franz Wuketis zu dem Schluss, dass den Menschen vor allem das Ungewöhnliche interessiert. Uns fasziniert das, was stark von der geltenden Norm abweicht. Und ich glaube, das ist einer der Schlüsselfaktoren, warum Arthur Fleck und allgemein die Figur des Jokers solch eine Faszination ausübt. Und wenn uns eine Person fasziniert, dann verzeihen wir ihr auch mehr. Das Außergewöhnliche ist praktisch Grundbedingung, damit eine Person auf uns faszinierend wirkt.

Aber es gilt auch der Umkehrschluss: All die negativen Verhaltensweisen, die uns „gewöhnlich” erscheinen, all das, was uns zu sehr an negative Erlebnisse im Alltag erinnert, das finden wir entweder  abstoßend oder schlicht und ergreifend nervig!

Die Filmgeschichte bietet zahlreiche Beispiele für faszinierenden Schurken, die schreckliche Taten begehen und die trotzdem vom Publikum bewundert oder zumindest respektiert werden. Ein Hannibal Lecter ist ein gefühlskalter Serienkiller der Teile seiner Opfer verspeist. Aber er ist gleichzeitig ein brillianter Denker, scharfsinniger Analytiker und gewiefter Manipulator. Trotz ihrer Gräueltaten erntet diese Figur kaum Hass oder Abscheu. Die Menschen sind fasziniert von ihr. Dasselbe kann man von einem Darth Vader sagen, der für ein Imperium arbeitet, das ganze Planeten zerstört. Oder über den Vampir Lestat. Alle Genannten sind Mörder ohne hehre Motive. Und doch ernten sie auch positive Reaktionen. Ihr „Larger than Live“-Prinzip schafft eine Distanz, durch die man sie verklären kann. Es gibt wenig Verknüpfung zur Lebenswirklichkeit der Zuschauer. Und so lässt sich ausblenden, dass diese Personen, gäbe es sie wirklich, ohne Skrupel auch die eigenen Freunde oder Verwandten umbringen könnten.

Joaquin Phoenix aungeschminkt in Joker
Arthur Fleck wird zunächst als Verlierertyp inszeniert und nicht als psychopathisches Genie wie beispielsweise Hannibal Lecter. Dennoch ist seine Biografie so einzigartig, dass dieser Außenseiter mit den meisten real existierenden Außenseitern kaum etwas gemein hat. (© WARNER BROS.)

 

Nähe zur Lebenswirklichkeit empfinden wir bei negativen Figuren als unangenehm

Darth Vader, der Joker, Hannibal Lecter: Alle drei landen bei Wahlen der beliebtesten Bösewichte immer wieder auf den Spitzenplätzen. Aufgemerkt: Listen der beliebtesten Film- und Fernsehschurken. Denn die meistgehassten Figuren sind sie nicht.

Eine der meistgehassten Figuren der Film- und Fernsehgeschichte hat nicht einen einzigen Menschen umgebracht. Ich spreche von Skyler White, der Ehefrau von Walter White aus Breaking Bad„. Die ist weit davon entfernt, eine Serienkillerin zu sein, und doch gibt es Facebook-Gruppen wie I hate Skyler„, die Zehntausende von Usern im gemeinsamen Hass vereinen. Zur Info für die wenigen Leser, die noch nie von Breaking Bad“ gehört haben: Breaking Bad ist ein TV-Drama, das die Entwicklung des durchsetzungsschwachen Chemielehrers Walter White erzählt, der an Lungenkrebs erkrankt und sich im Laufe der Serie zu einem skrupellosen Drogenkriminellen entwickelt. Und obwohl er sowohl aus Habgier, Feigheit und auch falschem Stolz immer wieder Menschen umbringt oder umbringen lässt, gilt nicht Walter White der Hass des Publikums. Nein, der gilt seiner Frau Skyler.

Skyler ist eine ewig nörgelnde Ehefrau, deren sexuelles Desinteresse an ihrem Mann schon in der ersten Folge deutlich gemacht wird. Die Walter White später seine kriminellen Machenschaften und seine Habgier vorwirft, aber dann ohne mit der Wimper zu zucken dessen kriminell erworbenes Blutgeld verwendet, um die Schulden ihres heimlichen Geliebten zu bezahlen. Doch die wenigsten von uns kennen erfolgreiche Drogenbarone wie Walter White. Aber fast jeder kennt doppelmoralische Nörgler wie Skyler, die anderen gern Moralpredigten halten, aber nicht im geringsten an ihren eigenen Charakterschwächen arbeiten. Und solche Figuren lösen bei uns keine Faszination oder Empathie aus. Denn sie erinnern uns beständig an unangenehme Erlebnisse und Bekannte, die wir am liebsten aus unserem Gedächtnis verbannen würden.

Gequält lächelnde Dolores Umbridge aus "Harry Potter: Der Orden des Phönix"
Der meistgehasste Charakter der Harry-Potter-Reihe ist nicht etwa der vollkommen entmenschlichte Voldemort, sondern die konservative Dozentin Umbridge. Ein Hinweis, dass uns das alltagsnähere „Böse“ in Filmen mehr abstößt als wirklichkeitsferne Charaktere. (© WARNER BROS.)

Objektiv sind wir in der Lage zu erkennen, dass solche Personen eigentlich viel weniger Schuld auf sich laden als die berühmten Filmbösewichte. Doch innerlich sträuben wir uns dagegen, diesen Figuren Verständnis entgegenzubringen. Weil sie zu sehr realen Personen ähneln, mit denen wir nichts zu tun haben wollen.

Ein ähnliches Phänomen kann man übrigens auch bei der Harry-Potter-Serie festellen: Zu den meistgehassten Figuren gehört dort nicht etwa der machtgierige Antagonist und Kriegstreiber Lord Voldemort. Nein, dieser Titel gebührt Dolores Umbridge, die als gestrenge und konservative Lehrerin mit Faible für entwürdigende und schmerzhafte Disziplinarstrafen bei vielen äußerst unangenehme Erinnerungen an die eigene Schulzeit geweckt haben dürfte. Doch was hat das nun alles mit dem Vergleich der beiden Filme Joker und Taxi Driver zu tun?

 

 

Joker und Taxi Driver: Es gibt da draußen mehr Travis Bickles als Arthur Flecks

Der springende Punkt ist der, dass der Film Joker zwar ein beeindruckendes Psychogramm eines zurückgewiesenen Außenseiters zeichnet, aber Arthur Flecks Biografie so einzigartig ist, dass sie kaum direkte Anknüpfungspunkte an die tatsächliche Realität der Zuschauer enthält. Arthur Fleck versucht sein Bestes, um akzeptiert zu werden und will zu Beginn des Films die Menschen vor allem zum Lachen bringen. Ein durchaus positives Ziel. Und trotzdem erfährt er ständig Zurückweisung und Erniedrigung. Viele dürfte das an all die unverdienten Zurückweisungen erinnern, die sie selbst durchlitten haben. Woran Arthur Fleck aber kaum jemanden erinnern dürfte, sind all die sozialen Außenseiter, von denen man sich selbst nur allzu gern abgegrenzt!

Die Verhaltensmuster eines Travis Bickle hingegen kann man nahezu täglich im Alltag und den sozialen Medien erleben. Sowohl Arthur Fleck als auch Travis Bickle entscheiden sich zu einer radikalen Abkehr von der Gesellschaft. Aber was ihre Vorgeschichte betrifft, ist ein Arthur Fleck sehr viel weiter von der Normalität entfernt als ein Travis Bickle. Viele  können mit dem späteren Joker besser mitleiden, gerade weil er sie nicht auf unangenehme Weise an solche Typen erinnert, denen man im eigenen Leben immer wieder begegnet.

Ein kurzer tabellarischer Vergleich soll verdeutlichen, worauf ich hinaus will. Die Grundbedingungen sind bei beiden Figuren ähnlich: Es handelt sich um zurückgewiesene Geringverdiener mit wenig prestigeträchtigen Job und psychischen Problemen. Aber Travis Bickles Abweichungen von der bürgerlichen Normalität sind stets etwas geringer als die des Jokers. Die Wahrscheinlichkeit, jemanden mit der Biografie eines Travis Bickle zu begegnen, erscheint weitaus größer als die, einem Arthur Fleck zu begegnen.

Joker und Taxi Driver: Biografien ihrer Hauptfiguren im Vergleich
Biografie vor der Eskalation Arthur Fleck Travis Bickle
Qualifikation und Beruf Straßenclown und erfolgloser Stand-up-Comedian, der unfähig ist, gute Witze zu erzählen Taxifahrer (angedeutet wird zu Beginn eine eher geringe Qualifikation/schulische Bildung)
Im Film direkt benannte psychische Leiden Psychische Erkrankung, die ihn in Stress-Situationen dazu zwingt, unkontrolliert zu lachen. Wahnvorstellungen, die ihn eine Beziehung zu einer Frau halluzinieren lassen. Massive Schlafstörungen (wahrscheinlich leidet auch ein Travis Bickle unter weiteren psychischen Störungen, doch werden die in Taxi Driver nie so direkt benannt oder erklärt wie in Joker)
Gewalterfahrungen Arthur Fleck wird als Erwachsener mehrfach Opfer direkter körperlicher Gewalt, wird auf der Straße zusammengetreten und in einer U-Bahn bedroht und geschlagen. Und vieles weist darauf hin, dass er bereits als Kind schwer misshandelt wurde. Travis Bickle war U.S Marine während des Vietnamkriegs. Einem Krieg, an dem Ende der 60er-Jahre ungefähr eine halbe Million amerikanischer Soldaten beteiligt waren (diese Erfahrung hat er also mit einer halben Million junger Männer gemeinsam). Seine Kriegserlebnisse werden im Film aber weder visualisiert noch direkt angesprochen. Während der Filmhandlung selbst erlebt er in der ersten Filmhälfte Gewalt nur als Beobachter.
Art der Zurückweisung

In der Gesellschaft ist Arthur Fleck aufgrund seiner psychischen Erkrankung isoliert, die Menschen reagieren mit Befremden oder Aggression darauf. Über seine Unfähigkeit als Comedian macht sich sein Idol öffentlich in einer Fernsehsendung lustig. Seine Beziehung zu einer Frau hat er komplett imaginiert. In Wirklichkeit will diese keinerlei Kontakt zu ihm.

Seine Vergangenheit wird nicht vollends aufgeklärt, aber es scheint, dass sein Adoptivvater ihn verleugnet und seine Mutter seine Misshandlung als Kind ohne Einzugreifen mitangesehen hat.

Wünscht sich Kontakt zu einer Frau und es gelingt ihm tatsächlich, sich mit der  Wahlkampfhelferin Betsy zu verabreden. Diese ist zu Beginn durchaus positiv von Travis eingenommen. Erst, als dessen sexuelles Begehren in Kombination mit seiner nur überspielten sozialen Inkompetenz zu deutlich hervorschimmert, bricht Betsy enttäuscht und wütend den Kontakt ab.

Travis Bickles: Die Frau als einziger Ausweg aus der Isolation des Mannes

Der Joker ist von frühster Kindheit an gebrochen und seinen späteren Leidensweg können wir im Detail miterleben: Er wird verprügelt, leidet unter einer unheilbaren psychischen Störung und wird vor Hunderttausenden öffentlich im Fernsehen gedemütigt. Nichts davon hat er verdient, kaum etwas davon hat er selbstverschuldet. Er wird praktisch schuldlos in seine Außenseiterrolle gedrängt. Es ist nur natürlich, dass man mit so jemanden Mitleid empfindet.

Wie der Joker versucht auch Travis Bickle Anschluss an die Gesellschaft zu finden. Travis ist sich seiner Misere als Außenseiter durchaus bewusst, wenn er in sein Tagebuch schreibt:

Ich wusste, was mir fehlte, war ein Mensch.

Doch während Arthur Fleck sich auch Anerkennung auf der Bühne wünscht, er ein Idol hat und nach einer Vaterfigur sucht und auf all diesen Ebenen scheitert, unternimmt Travis gar nicht erst den Versuch, über Berufsleben, Familie oder Freunde einen Weg aus seiner Isolation zu finden. Und obwohl er im Gegensatz zu Arthur von seinen Kollegen respektiert wird, scheint auch er keinerlei richtigen Freunde zu haben.

Betsy aus Taxi Driver mit einem Regenschirm
Betsy ist für Travis in der ersten Filmhälfte noch so etwas wie eine Erlösungsfigur. Der Ausweg aus seinem kläglichen Leben besteht für ihn aus der Aufmerksamkeit einer attraktiven Frau. (© Columbia Pictures Industries)

Er kümmert sich auch nicht darum, denn der Mensch, der ihm aus seinen Leid erlösen soll, muss eine sexuell attraktive Frau sein. Als er die junge Wahlkampfhelferin Betsy sieht, richtet er all seine Hoffnungen komplett auf sie. In seiner Analyse Taxi Driver: Radikalisierung und Integration“ fasst Arno Stallmann treffend zusammen: Sein Lösungsansatz heißt Betsy und das ist insofern ein Problem, als dass er zwischenmenschliche Beziehungen auf diese eine Form intimer und vor allem sexueller Beziehungen reduziert.

Den einzigen Ausweg aus seiner Isolation sieht Travis in der Beziehung zu einer Frau. Und obwohl er sie nur flüchtig kennt, beginnt Travis, jene Betsy vollkommen überzuidealisieren. Er stilisiert sie zu der einen Person, die all seine Leiden beendet. Und verkennt dabei, dass das keine Einzelperson leisten kann.

Doch so traurig das ist, lässt sich festhalten, dass Travis in dieser Hinsicht kein Einzelfall ist. Die aus einer falsch verstandenen Romantik resultierende Erwartung, dass ein (potenzieller) Partner sämtliche seelischen Verletzungen einer Person heilen kann und man erst durch ihn erst vollwertiges Mitglied der Gesellschaft wird, ist bis heute weit verbreitet. Und wie bei Travis führt eine solche Überhöhung einer Einzelperson schnell zur Enttäuschung.

Das Problem von Travis ist also ein Problem von allgemeiner Relevanz. Und analysiert man seine charakterlichen Schwächen, dann fällt schnell auf, dass seine Schwächen und Fehler solche sind, die Millionen Menschen dort draußen teilen. Genau das unterscheidet ihn von der Figur Arthur Fleck.

 

Das Schlechte in Travis ist das Schlechte, das uns überall begegnen kann

Travis Bickle hat sicherlich psychische Probleme, aber er ist anders als Arthur Fleck kein von Wahnvorstellungen Geplagter, dem man seine Medikamente genommen hat. Seine Schlaftabletten bekommt er rezeptfrei und zu Beruhigung nimmt er einfach einen Schluck aus seinem Flachmann, den er unter seiner Jacke immer dabei hat. Er hält sich für weltoffen und tolerant, wenn er selbst sagt: Mir macht es nichts aus, Nigger zu fahren.“ Doch wenn er einer Gruppe von Dunkelhäutigen begegnet, mustert er sie zunächst einmal misstrauisch. Einer seiner Tagebucheinträge lautet:

Wenn es dunkel wird, taucht das Gesindel auf. Huren, Betrüger, Amateuernutten, Sodomisten, Triden, Schwuchteln, Drogensüchtige, Fixer, kaputte Syphkranke … Ich hoffe eines Tages wird ein großer Regen diesen ganzen Abschaum von der Straße spülen.“

Bereits in den ersten Minuten erleben wir ihn als schlechten und aufdringlichen Flirter, der unsicher wird, sobald er eine Abfuhr bekommt. Ohne Frau fühlt er sich unvollständig, und ständig kreisen seine Gedanken um die Wahlkampfhelferin Betsy. Es drängt sich die Frage auf, warum er sie so sehr begehrt, denn er kennt sie kaum. Von sich selbst sagt Travis, dass er keine Ahnung von Politik hat. Das, was aktuell Bettsys Leben am meisten prägt, interessiert ihn also eigentlich nicht. Und obwohl er keinerlei Ahnung von Politik hat, hat Travis natürlich eine klare Meinung zur Politik. Als er eines nachts den Senator Palantine in seinem Taxi fährt, erzählt er diesem von seinen Ansichten:

Diese Stadt ist voller Dreck und Abschaum. Sie ist ein Alptraum geworden. Egal wer hier Präsident wird, er müsste … hier gründlich aufräumen. Stellen sie sich vor, ich kriege Kopfschmerzen, wenn ich spazieren gehe und diesen Dreck riechen muss, unglaublich! Diese Kopfschmerzen werden immer schlimmer. Ich … ich hab auch ne Idee: Der Präsident sollte diese Stadt entweder abbrennen oder einfach in die größte Toilette runterspülen!“

Betsy lässt sich im Verlaufe des Films von Travis zu einem Date überreden. Sie ist fasziniert von seiner Andersartigkeit. Travis gibt sich selbstbewusst, doch wirken seine Komplimente plump. Er ist manipulativ, aber sozial ungelenk. Während des Essens macht er schlechte Witze, und es ist auffällig, wie er seine eigene Position bei Betsy zu verbessern versucht, indem er ihren männlichen Kollegen abwertet. Gleichzeitig inszeniert er sich selbst als starken Mann“ (Ich werde sie beschützen„). Betsy indes lässt sich davon nicht beirren und stimmt einem zweiten Treffen zu. Travis kauft für das nächste Treffen eine ihrer Lieblingsplatten als Geschenk für Betsy.

Das Treffen endet für Travis in einem Desaster: Er lädt Betsy ins Kino ein  – doch was diese nicht ahnt, ist, dass er sie in ein PornokKino führt. Betsy ist davon ebenso irritiert wie abgestossen und bricht vorzeitig auf. Zuletzt wirft sie Travis an den Kopf: Uns trennen Welten!

Travis Bickle im Gespräch mit der jungen Iris.
Nach der Ablehnung durch Betsy plant Travis zunächst, den von Betsy unterstützten Senator zu erschießen. Als das nicht gelingt, wird er zum gewalttätigen Rächer der Kinderprostituierten Iris. Erneut inszeniert er sich als Beschützer, ignoriert aber Iris‘ tatsächliche Wünsche. (© Columbia Pictures Industries)

Der zuvor so selbstsichere Travis verbringt nun die nächsten Tage damit, Betsy bis ins Büro nachzustellen, er telefoniert ihr hinterher und schickt ihr Blumen. Als das alles nicht fruchtet und Betsy weiterhin jeden Kontakt ablehnt, kippt das Urteil über die einst so vergötterte Frau. Travis stellt fest: Sie ist genau so wie alle anderen Frauen!

Ein Mann, der keine Ahnung von Politik hat, aber eine klare politische Meinung. Der rassistisch ist, aber sich selbst nicht als Rassist sieht. Der einen unverhohlenen Hass auf soziale Randgruppen hegt, obwohl er selbst ein sozialer Außenseiter ist. Die Figur des Travis Bickle ist auch mehr als 40 Jahre nach Taxi Driver noch von höchster gesellschaftlicher Relevanz. Und der Versuch, die Angebetete mit Gefälligkeiten zu erkaufen“, aber sie komplett abzulehnen, wenn sie keine Beziehung will, dürfte auch heute noch viele Frauen an eigene Erfahrungen mit verbitterteten Single-Männern erinnern.

Arthur Fleck hat nach rund 30 Minuten des Films bereits 3 Menschen getötet. Und doch fühlen sich ihm zu diesem Zeitpunkt noch mehr Zuschauer verbunden als Travis Bickle in der 30. Minute von Taxi Driver. Das hat mehrere Gründe: Ein wesentlicher ist sicherlich, dass Arthur uns weniger an unangenehme Zeitgenossen aus unserem Alltag erinnert als Travis. Doch es gibt noch zwei weitere: Joker bietet uns weiteraus mehr Erklärungen für das Verhalten seines Protagonisten. Und Arthurs Mordserie richtet sich größtenteil gegen Menschen, die ihm selbst etwas angetan haben. Das ist bei Travis nicht der Fall.

 

Attraktivität des missverstandenen Mörders: Beim Joker kann man alles auf die Umstände schieben, weil wir diese kennen

Bei einem Vergleich der Filme Joker und Taxi Driver, fällt auf, dass Joker seinen Protagonisten sehr viel stärker erklärt. Wir wissen mit Gewissheit, dass Arthur Fleck eine psychische Störung hat, während wir dies bei Travis Bickle nur vermuten können. Wir wissen, dass Arthur Fleck aus total zerrütteten Familienverhältnissen kommt, denn die Figuren reden darüber und das Verhältnis zwischen Arthur Fleck und seiner Mutter wird auch filmisch dargestellt. Bei Travis fällt lediglich die Abwesenheit seiner Familie auf. Dass seine Eltern noch leben, erfahren wir erst, als er ihnen kurz vor seinem blutigen Massaker eine Postkarte sendet. Warum er kaum Kontakt mit ihnen hat, erfahren wir hingegen nicht. Auch was die Gewalterfahrung des Jokers betrifft, wird der Film sehr konkret. Wir erfahren von seinen Misshandlungen und wir erleben direkt mit, wie Arthur auch später als Erwachsener noch zusammengeschlagen wird.

Arthur Fleck hat einen Lackkrampf
Immer wieder werden wir Zeuge, wie Arthur in den unpassendsten Situationen einen Lachkrampf bekommt. Joaquin Phoenix gelingt es, trotz des Lachens die Scham und die Verzweiflung auszudrücken, die Arthur dabei empfindet. Und als Betrachter fühlen wir das mit. (© WARNER BROS.)

Als Zuschauer weiß man also nicht nur rein rational, was Arthur Fleck alles durchgemacht hat, sondern fühlt es mit, eben weil der Film es zeigt. Was Travis Bickle an Isolation und Gewalt durchlitten hat, deutet Scorsese hingegen nur an. Das meiste davon dürfte sich noch vor der eigentlichen Filmhandlung abgespielt haben. Es ist davon auszugehen, dass Travis furchtbare Kriegsgräuel in Vietnam miterlebt hat. Er kann, wennn überhaupt, nur mit Schlaftabletten einschlafen und braucht regelmäßig Alkohol. Aber was genau Travis zu dem Menschen werden ließ, der er ist, das erfährt man nicht. Was der Film zeigt, ist lediglich, wie Travis von seiner angeschmachteten Betsy einen Korb bekommt. Das ist abgesehen vom blutigen Ende das Schlimmste, was Travis im gesamten Film passiert.

Bei Arthur Fleck sehen wir direkt auf der Leinwand, wie er nahezu krankenhausreif geschlagen wird. Wie er ohne guten Grund gefeuert wird. Wie eine menschenverachtende Bürokratie dafür sorgt, dass er seine Medikamente nicht mehr bekommt. Und das ist keine bloße Ahnung und bloße Informationsmitteilung, sondern wir werden als Zuschauer durch die filmische Darstellung unmittelbar  emotional involviert. Und so fühlen wir zwangsläufig mehr mit Arthur Fleck mit als mit Travis Bickle.

Helferkomplex und Hybristophilie: Die Romatisierung der Figuren in Joker und Taxi Driver

Die Figur des Jokers fasziniert nicht nur in Philipp Todds Filmversion. Der Joker ist allgemein einer der beliebtesten Filmbösewichte. Im Jahr 1992 stellte man ihn mit der weiblichen Harley Quinn eine Gefährtin an die Seite. Und es ist bezeichnet, dass dieses Paar, das eigentlich Symbolbild einer missbräuchlichen Beziehung ist, von nicht wenigen Fans als ideales Pärchen stilisiert wird. (Und der meiner Meinung nach unsagbar miese Suicide Squad haut exakt in dieselbe Kerbe). In den verschiedenen Comic-Versionen des Jokers ist dieser mal nett und zuvorkommend zu Harley Quinn, aber dann prügelt er ohne Vorwarnung auf sie ein oder ist bereit, ihren Tod in Kauf zu nehmen. Diese eigentlich höchst ungesunde Beziehung wird in den Social Media immer wieder verklärt und idealisiert. Und auch in der realen Welt gibt es Frauen, die sich von Schwerverbrechern in besonderem Maße angezogen fühlen. Der psychologische Fachbegriff dafür lautet Hybristophilie.

Häufig findet dabei eine seltsame Umdeutung der Rahmenbedingungen statt. Die Tatsache, dass kaum jemand bereit wäre, mit einem Serienmörder eine Beziehung einzugehen, wird dabei zur Qualität umgedeutet: Dass die Bindung zwischen Frau und Killer besonders tief ist, zeige sich gerade darin, dass sie die einzigen sind, die sie nachvollziehen können. Die Beziehung wirkt so besonders exklusiv.

Aber auch das klassische Helfersyndrom prädestiniert dazu, Figuren wie Arthur Fleck zu romantisieren. Die Selbstaufopferung für einen Partner, der eigentlich Gefahr und Bedrohung ist, dient dabei der Bestätigung des Eigenwerts.

 

Und typische Mechanismen, die man in Paarbeziehungen findet, können auch bei der Bewertung von Filmfiguren greifen. Man erkennt das daran, dass die Verteidigung einer Filmfigur dann ähnlichen Argumentationsmustern folgt wie die Verteidigung einer aussichtslosen Beziehung: Ja, er sei zwar ein Serienmörder und neige zu gewaltsamen Ausbrüchen, aber das resultiere ja nur aus seiner schweren Kindheit / seinem Umfeld / der Provokation seiner Mitmenschen. Wenn er ein stabileres Umfeld gehabt hätte, dann wäre bestimmt ein sehr liebevoller Mann aus Arthur Fleck geworden.

Wobei man dieser Argumentation durchaus folgen kann, ohne unter einem Helferkomplex zu leiden. Hellhörig sollte man aber werden, sobald Rezipienten direkt sich selbst in der Rolle desjenigen sehen, der Serienmördern ein behagliches Umfeld schafft.

Dadurch, dass Arthur Flecks Leidensweg sehr viel detaillierter dargestellt wird als der von Travis Bickle, bietet Joker anders als Taxi Driver deutllich mehr Anknüpfungspunkte für oben dargestellte Argumentation. Da wir hingegen kaum etwas über Travis Vergangenheit wissen, wird es vergleichsweise schwierig, damit seine Taten zu rechtfertigen.

 

Joker und Taxi Driver: Rache als Legitimation und Identifikationsmittel

Die Häufung an Rückschlägen, die Arthur Fleck im ersten Filmdrittel erlebt, kann einem nur ungerecht erscheinen. Und wir alle haben schonmal Ungerechtigkeit erlebt. Jeder kann verstehen, dass in Arthur deswegen eine riesige Wut brodeln muss. Seine ersten Morde kann man zudem als Notwehr deuten. Die Opfer werden darüber hinaus so unsympathisch gezeichnet, dass man beinahe Genugtuung spürt, als Arthur sie endlich zur Strecke bringt. Drei aufdringliche reiche Schnösel, die eine einsame junge Frau bedrängen und später als Gruppe auf Arthur einprügeln, nur weil sie sich an seinem Lachen stören.

Die Illusion eines gerechten Motivs in Joker

Arthur Fleck als Joker vor einem brennenden Auto
Gothams Bevölkerung sieht in Arthur Fleck eine Leitfigur des Widerstands gegen die korrupte Oberschicht. (© WARNER BROS.)

Diese drei Typen verkörpern praktisch das Sinnbild der reichen und rücksichtslosen Oberschicht Gotham Citys. Der Stadt, dessen Gesicht Thomas Wayne ist. Jenes Bürgermeister-Kandidaten, der die rebellierende, unzufriedene Stadtbevölkerung als Clowns bezeichnet. Und von dem Arthur zu Beginn noch glaubt, dass er sein Vater ist, der ihn und seine Mutter in Armut zurückgelassen hat. Direkt nach seinen ersten Morden muss Arthur Therapeutin ihm mitteilen, dass die Stadt die Gelder für seine Therapiesitzungen und seine Medikamente gestrichen hat. In einem Moment der Ehrlichkeit teilt sie ihrem Patienten mit: „Die interessieren sich einen Scheißdreck für Menschen wie sie, Arthur!“ Mit „die“ sind die da oben gemeint“, und lange Zeit lässt Joker offen, ob man Arthurs Entwicklung zum Gewalttäter nicht als Rebellion gegen die korrupte, selbstgerechte Oberschicht begreifen sollte.

Glücklicherweise belässt es der Film nicht bei dieser simplen Deutung, denn unter den weiteren Opfer sind auch Angehörige der Unterschicht. Bei der Ermordung seiner Mutter, seines Kollegen und des Showmasters Murray Franklin scheint es weniger um einen Feldzug gegen die Herrschenden zu gehen, als vielmehr um persönliche Rache. Alle genannten Personen haben Arthur auf die ein oder andere Weise hintergangen oder erniedrigt. Doch inwieweit dies seine Morde rechtfertigt, ist der Interpretation des Zuschauers überlassen. Nicht zuletzt deswegen gab es auch kontroverse Diskussionen darüber, ob Joker ein gewaltverherrlichender Film ist. Aber meiner Meinung nach erfolgt die Darstellung von Arthurs Gewalt so schonungslos, dass jedem vernünftigen Menschen klar werden sollte, dass Arthur weit über jedes gerechte Ziel hinausschießt, wenn er Menschen bereits auf geringer Verfehlungen brutal hinrichtet. Aber bis das vollkommen deutlich wird, lässt uns Regisseur Todd über eine Stunde mit seinem Protagonisten mitleiden und mitfiebern.

Travis braucht Feindbilder als Projektionsflächen seines Hasses

So viel zum Joker. Und wie sieht es in Taxi Driver aus? Eine Identifikation mit Travis ist schwierig, da wir über seine Beweggründe nichts wissen und nur spekulieren können. Was wir an direkter Zurückweisung im Film selbst erleben können, dürfte selbst für die rachedurstigeren meiner Leser kaum als Rechtfertigung von Travis Mordplänen taugen: Er bekommt einen Korb von einer Frau. Das war’s. Nun kann man durchaus Rachefantasien vermuten, wenn er daraufhin beschließt, jenen Politiker umzubringen, für den Betsy arbeitet. Aber es kommt gar nicht zu jenem Politikermord. Stattdessen richtet er ein Blutbad unter den Zuhältern um Iris an.

Tatsächlich gibt es einige Menschen, die das zum Anlass nehmen, Travis als Verkörperung eines gerechten Zorns zu idealisieren. Aber Scorsese macht sehr deutlich, dass es Travis weniger um idealistische Ziele als vielmehr darum geht, seinen aufgestauten Zorn zu entladen und sein Selbstverständnis als männlicher Beschützer wiederherzustellen. So wie er zuvor all seine Hoffnungen auf die Einzelperson Betsy projiziert hat, projiziert Travis nun seinen aufgestauten Hass auf Iris‘ Zuhälter. Denn als Travis auf das Mädchen einredet, dass sie ihre Jugend nicht als Prostituierte für Perverse und Verbrecher verschwenden sollte, schlägt diese ihm vor, dass sie mit ihm zusammen in eine Kommune ziehen könne.

 

Travis lehnt dies ab und lügt ihr vor, dass er einen wichtigen Regierungsauftrag zu erfüllen habe. Das nächste Mal sehen sich die beiden, als Travis sich durch das Stundenhotel mordet, in dem Iris arbeitet. Iris fleht Travis unter Tränen an, den Inhaber zu verschonen, aber Travis schießt diesem kaltblütig in den Kopf. Anders als Arthur wurde Travis von seinen Opfern nie erniedrigt oder gequält (der Zuhälter Matthew macht lediglich ein paar Witze über Travis, die aber außer den beiden niemand mitbekommt). Insofern lässt sich sein blutiger Marsch durch das Hotel kaum als Rachefeldzug verstehen. Und das es ihm tatsächlich auch nicht um Iris als Person geht, zeigt sich darin, dass er keiner einzigen ihrer Bitten folgt.

Gemeinsam ist Joker und Taxi Driver, dass sie den moralischen Niedergang zweiter Außenseiter erzählen, deren Frustration sich schließlich in einem zerstörerischen Akt der Gewalt entlädt. Aber anders der Film Joker erzeugt Taxi Driver nicht einmal die Illusion, dass es Travis um Gerechtigkeit geht. Das redet sich Travis in seinem Selbstbetrug höchstens selbst ein. Und genau das unterscheidet ihn auch von Arthur Fleck, der sehr genau weiß, dass die Massen ihm eine politische Intention unterstellen, die er nie hatte. Und so kann man Arthurs Worte bei seinem großen Fernsehauftritt zum Finale des Films auch als Mahnung an jene Kinobesucher verstehen, die mehr in den Joker hineinlesen, als er tatsächlich ist:

„Kommen Sie, Murray! Sehe ich aus wie die Art von Clown, die eine Bewegung gründen könnte? Ich habe diese Typen getötet, weil sie furchtbar waren!“

Fazit: Empathie für die Protagonisten aus Joker und Taxi Driver

Meine Ausgangsthese war, dass die Figur des Arthur Flecks in Joker deutlich mehr Empathie und Mitleid weckt als Travis Bickle in Taxi Driver. Die Gründe dafür hängen vor allem mit dem Schaffen von Distanz und Nähe zur Lebenswirklichkeit des Publikums zusammen. Joker holt sein Publikum immer dann ganz nahe ans Geschehen heran, wenn Arthur ungerechterweise gedemütigt wird, wenn er ohne Eigenverschulden in eine peinliche oder gefährliche Situation kommt. Der Film hält dann voll drauf und provoziert so geradezu eine emotionale Reaktion beim Publikum. Scorsese arbeitet in Taxi Driver deutlich mehr mit Andeutungen. Das meiste, was Travis Bickle an Negativem erfahren hat, dürfte sich vor dem eigentlichen Filmgeschehen ereignet haben. Doch wir sehen es nie. Wir können es uns nur rational aus den Hinweisen erschließen. Das was wir an Zurückweisung von Travis erleben, ist eigentlich so geringfügiger Natur, dass wir die emotionale Wirkung auf Travis nicht nachvollziehen können.

Wenn man so will, schaffft Scorsese schon sehr viel früher als Phillips emotionale Ausstiegspunkte für den Zuschauer, bei denen dieser sich von der Figur distanzieren und ihr Handeln rational bewerten kann.

Travis Bickle, blutbedeckt mit einer Pistole in der Hand auf einem Sofa sitzend
Die Gründe, die zu Travis‘ Blutbad führen, sind nicht allein durch  die gezeigte Handlung erklärbar. Wichtig sind zudem auch die erzählten Tagebucheinträge und die Hinweise auf seine Vergangenheit. (© Columbia Pictures Industries)

Interessanterweise ist es auch gerade die Alltagsnähe einer Figur wie Travis, die eine tatsächliche Identifikation nahezu unmöglich macht. Denn wenn diese Alltagsnähe vor allem aus vom Zuschauer oft erlebten negativen Verhaltensweisen besteht, dann will er sich gar nicht mit der Filmfigur identifizieren. Travis latenter Rassismus, seine ungelenkten Flirtversuche, seine Fixierung auf eine Frau als Allheilmittel … ihre Abwertung, sobald er einen Korb bekommt: Das sind alles Verhaltensweisen, die vielen Zuschauern unangenehm bekannt vorkommen dürften.

Und zu guter Letzt wäre da noch das schuldige Opfer“. Eine zeitlang bedient sich Joker praktisch Wirkmechanismen typischer Revenge-Filme. Viele von Arthurs Opfern waren direkt oder indirekt an seiner körperlichen oder seelischen Erniedrigung beteiligt. Und insbesondere seinen ersten Opfer werden in jeder Hinsicht als skrupellose und unverschämte Aggressoren dargestellt. Man möchte applaudieren, wenn er diese Typen endlich zur Strecke bringt! In Taxi Driver gibt es keinen solchen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Travis und seinen Opfern. Sein Zorn sucht lediglich einen Fokus. Ihm selbst wurde von seinen Opfern kein Leid angetan, weswegen auch ein Rachemotiv ausscheidet. Es ist anzunehmen, dass diese Typen weitaus Schlimmeres getan haben als sämtliche Opfer des Jokers. Aber die Leidtragende ist vor allem Iris. Und die wiederum fleht Travis an, die Männer zu verschonen.

Natürlich sind meine Thesen keine allgemein gültige Wahrheiten (auch, wenn ich mir das macnhmal wünsche). Daher bin ich gespannt, wie andere die beiden Filme erlebt haben. Also schreibt mir doch in die Kommentare, welche emotionale Wirkung die beiden Figuren auf euch hatten. Und ich wollte auch keinen wertenden Vergleich beider Filme vornehmen: Beide Filme sind meiner Meinung nach überaus gelungen.

Joker schafft es, seine Zuschauer stärker emotional in seinen Bann zu ziehen und mit dem Protagonisten mitzufiebern. Doch von größerer gesellschaftlicher Relevanz ist meiner Meinung nach Taxi Driver, gerade weil Travis Bickle von negativen und falschen Denkmustern kontrolliert wird, die sich aktuell wieder viele Menschen aneignen. Hier ist das Schaffen von Distanz praktisch notwendig, damit man die Motive und Handlungen von Travis hinterfragen kann.

 

 

Bildrechte Titelbild

  • Linke Abbildung vom Joker © WARNER BROS.
  • Rechte Abbildung von Travis Bickle © Columbia Pictures Industries


Autor: Marius Tahira

Blogger und hauptsächlich Verantwortlicher der Website marius-tahira.de, auf der er sich den Genres Horror, Dystopie und Thriller widmet. Nach einer Verlagsausbildung und seinem Germanistikstudium war er lange Zeit im Lektorat tätig und arbeitet nun im Bereich der Suchmaschinenoptimierung.

2 Gedanken zu “Joker und Taxi Driver: Zwei Filme, zwei Mörder. Warum wir nur mit einem mitleiden

  1. Vielen Dank für diesen sehr lesenswerten Artikel. Ich stimme der These zu, die sich auch schon im wahren Leben bestätigt. So wird die Szene mit dem die Treppe heruntertanzenden Joker gerne und oft für sozial Media nachgespielt offensichtlich ohne sich der Bedeutung der Szene bewusst zu sein während sich wohl kaum jemand einen Irokesen schneidet um wie Travis zu sein. Leider beweisen sie jedoch gerade dadurch keinerlei über das im Film Gezeigte hinausgehende Verständnis und Interesse für Arthur Fleck womit sie ironischerweise den Nebenfiguren in Taxidriver ähnlicher sind als den Nebenfiguren in Joker.

    Eine Stärke von Taxi Driver, dessen Themen u. a. Isolation und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit sind, sehe ich darin, dass nicht einmal wir als Zuschauer Travis das geben, was ihm fehlt. Wir haben kein Verständnis („Was der Film zeigt, ist lediglich, wie Travis von seiner angeschmachteten Betsy einen Korb bekommt. Das ist abgesehen vom blutigen Ende das Schlimmste, was Travis im gesamten Film passiert.“) und lassen ihn so in seiner Isolation, wir können nicht „connecten“ und somit ist er nicht zugehörig. Und gerade das mach ja im Alltag hellhörig und aufmerksam. Wenn Arthur im wahren Leben verprügelt wird, wollen wir eingreifen, wenn er unpassend lacht, haben wir spätestens wenn er uns seine Karte reicht Verständnis. Dafür brauchen wir keinen Film. Wenn wir Travis im wahren Leben begegnen, lehnen wir ihn auch ab, wenn das Date platzt, haben wir Verständnis für die Betsy, und schütteln über Travis den Kopf (Auch wenn Betsy im Nachhinein betrachtet ebenfalls das ein oder andere Kopfschütteln verdient hätte). Aber: Nach Taxi Driver verhalten wir uns vielleicht etwas weiser als Wizard, denn wir können besser verstehen wie Travis an diesen Punkt kommt. Taxi Driver schafft Verständnis wo vorher keines war. Und zwar dadurch, dass wir darüber nachdenken müssen. Das macht es uns leichter bestimmtes Verhalten ins echte Leben zu abstrahieren. Man merkt, das der Drehbuchschreiber in ähnlicher Lage war und somit ein tiefes Verständnis für die Figur des Taxi Drivers hat, während Joker sich seine Geschichte deutlich mehr ausdenkt (und das sogar im Film selbst). Und das macht Taxi Driver (neben anderen Aspekten) wertvoller als Joker.

    Auch wenn ich Joker als Film sehr genieße, so hinterlässt der Film keine oder nur wenig Spuren im Alltag und somit über den Film selbst hinaus. Auch kann ich weniger mit ihm arbeiten als mit Taxi Driver da viele Antworten ja bereits im Paket inklusive sind, der Zuschauer wird wenig gefordert. Taxi Driver hat dagegen einfach viel mehr Fleisch am Knochen und gewinnt im Alltag – wie sie bereits schrieben – eine zunehmende Relevanz. Travis Bickle sitzt heute nicht mehr im Käfig Taxi, sieht die Welt verzerrt durch eine verregnete Windschutzscheibe und bringt sich sogar selbst dorthin („Everytime. Everywhere“). Er isoliert sich durch das Handy und sieht die Welt durch seine Twitter-Filterbubble, everytime, everywhere. Der „Dreck“ auf den Straßen mag individuell ein anderer sein, die Isolation von (Teilen der) Gesellschaft und das Ende so dramatisch wohl fast nur im Film vorkommen, im Kleinen ist Taxi Driver jedoch sehr relevant. Vielleicht erkennen wir manchmal sogar einen kleinen Travis in uns selbst, wenn das Handydisplay schwarz wird, wir uns darin spiegeln und uns einmal selbst in die Augen schauen. Und drehen wir den Spiegel dann auch so schnell weg wie Travis oder erinnern wir uns, was ein Taxi Driver uns zu erzählen hat?

    Von daher hätte der Artikel aus meiner Sicht gerne noch etwas länger sein dürfen und die Überschrift gerne „Joker und Taxi Driver: Zwei Filme, zwei Mörder. Warum wir mit dem Falschen mitleiden“ heißen können.

    1. Vielen Dank für dieses sehr ausführliche Feedback und die Gedankenanregungen. 🙂

      Ob Taxi Driver nun letztlich „wertvoller“ als Joker ist, mag ich nicht pauschal beurteilen. Zumindest mich hat beim ersten Schauen „Joker“ emotional deutlich stärker gepackt als „Taxi Driver“. Taxi Driver offenbarte mir hingegen erst im Nachgang beim analytischen Zerlegen seine außergewöhnlichen Qualitäten. Und da die emotionale Wirkung für mich auch zum Qualitätskriterium eines Films gehört, möchte ich da keine Rangfolge festlegen. Aber ja, „Taxi Driver“ bietet mehr Stoff zum Nachdenken, liefert seine Botschaften nicht gleich mit und wird – sofern sich das Sozialverhalten der Menschen in den nächsten Jahrzehnten nicht stark ändert – wahrscheinlich auch länger relevant bleiben als „Joker“.

      Wobei man dies „liefert seine Botschaften gleich mit“ beim Joker möglicherweise relativieren muss. Wir beide und viele andere mögen das so empfinden. ^^ Aber angesichts der Tatsache, wie häufig bestimmte „Larger than Life“-Figuren auf ihre „cool“ wirkenden Eigenschaften reduziert werden, obwohl sie durchaus ambivalent angelegt sind, kann ich verstehen, dass viele Drehbuchschreiber und Regisseure ihre Botschaft möglichst ungefiltert und geradezu penetrant in ihre Filme packen. Arthur Fleck wird in den Social Media ja häufig als gerechte Rächerfigur der armen Unterdrückten gefeiert. Dabei deutet das letzte Filmdrittel mit seiner Gewalteskalation an, dass er keineswegs nur die Unterdrücker straft – und selbst diese später ja über jedes angemessene Maß hinaus. (wenn ich mich recht erinnere, bringt der Joker gegen Ende auch einfaches Pflegepersonal um). Ähnliche Simplifizierung erfährt längst auch die Figur V aus „V for Vendetta“, die sich nicht nur an ihren früheren Peinigern rächt, sondern ebenso eine unschuldige Vertraute foltert, um sie zu einer gewünschten Erkenntnis zu bringen (und V bringt ehemalige Unterdrücker eben auch dann um, wenn sie ihre vergangenen Missetaten seit Jahren bereuen. Ob entsprechende Fans die Jahrzehnte nach der NS-Zeit erfolgte Ermordung ihrer Omas und Opas durch ein NS-Opfer auch so gefeiert hätten, bleibt fraglich :p). Wobei ich diese beiden Figuren ebenfalls sehr mag. Aber angesichts der Tatsache, wie oft sie vom Publikum auf ganz wenige Eigenschaften runtergebrochen werden, scheinen die Botschaften einigen Leuten immer noch nicht direkt genug zu sein. 😉

      Aber ja, Taxi Driver fordert den Zuschauer mehr; und ich persönlich mag in den meisten Fällen auch solche Filme lieber, die dem Zuschauer nicht alles auf die Nase binden.

      Den Vergleich mit den isolierten Handynutzer finde ich übrigens sehr passend. Von der Mutter missbrauchte, an Psychosen leidende Arthur Flecks laufen uns in der wirklichen Welt wahrscheinlich nur Wenige über den Weg. Außenseiter wie Travis Bickle, die sozial eher ungelenk sind und im Zwiegespräch mit sich selbst (oder inzwischen eben einem virtuellen Gegenüber) insgeheim ihren Hass und Zorn kultivieren, gibt es hingegen millionenfach.

      Abschließend bleibt mir noch zu sagen, dass ich mich sehr freue, dass mein Artikel auch trotz seiner Länge den ein oder anderen Leser erfreut. =) Verbales Feedback bekomme ich ja eher selten, sondern ich sehe meist nur die Besucherstatistiken und dass viele Seitenbesucher nach etwa 3 Minuten wieder abspringen. Was entweder bedeutet, dass sie die Artikel nicht zuendelesen oder diese Seite überwiegend von Blitzlesern besucht wird. Da mir letzterer Gedanke besser gefällt, entscheide ich mich vielleicht, den als Wahrheit zu akzeptieren. =D

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