Buchkritik: Wir haben schon immer im Schloss gelebt

Buch "Wir haben schon immer im Schloss gelebt" vor Nebelhintergrund

Ein abgeschiedenes Schloss, zwei mysteriöse Schwestern, ein nicht aufgeklärtes Verbrechen und misstrauische Dörfler. Die Zutaten, aus denen Shirley Jacksons Roman besteht, lassen auf eine klassische Horrorgeschichte schließen. Und doch handelt es sich vielmehr um eine beklemmende und fein gesponnene Sozialstudie, in der die klassischen Traditionen von Horrorerzählungen auf den Kopf gestellt werden.

Wir haben schon immer im Schloss gelebt“ ist der letzte Roman der amerikanischen Schriftstellerin Shirley Jackson und wurde 1962 veröffentlicht. Lange Zeit war dieser Klassiker in deutscher Übersetzung nur als Gebrauchtausgabe zu bekommen, denn der Diogenes Verlag hat seine letzte deutsche Ausgabe Anfang der 90er-Jahre publiziert! Das ist fast 30 Jahre her und viele meiner Leser waren zu dieser Zeit wahrscheinlich nicht mal geboren. Umso erfreulicher, dass der Festa Verlag 2019 eine Neuübersetzung des Romans herausgebracht hat. Für mich Anlass, diesen Roman genauer unter die Lupe zu nehmen.

 

Inhaltsangabe zu „Wir haben schon immer im Schloss gelebt“

Am Rande eines abgeschiedenen Dorfes liegt das Schloss der Familie Blackwood. Dort leben die beiden Schwestern Mary Katherine „Merricat“ Blackwood und Constance Blackwood zusammen mit ihrem Onkel Julian. Gesellschaft leistet ihnen lediglich der Kater Jonas, die anderen Familienangehörigen sind eines schicksalhaften Tages im Schloss gestorben. Ob durch Unfall oder Mord soll an dieser Stelle nicht verraten werden – und auch der Roman lässt diese Frage zunächst unbeantwortet. Viel wichtiger für das Romangeschehen ist indes die Haltung der Dörfler zu diesem Ereignis. Denn die meisten von ihnen gehen fest davon aus, dass Constance die eigenen Eltern getötet hat.

Zu den wesentlichen Themen des Romans gehören die Isolation der beiden ungleichen Schwestern und ihr Umgang mit den Anfeindungen der Dorfbewohner. Als Jahre nach der Familientragödie der Cousin der Schwestern das Anwesen besucht, endet deren Isolation schlagartig. Doch Merricat steht diesem Eindringen in die vertraute Schwesternwelt sehr misstrauisch gegenüber …

 

Meine Bewertung des Romans

Vorab: Ich mag diesen Roman! Er wirft interessante Fragen auf und schneidet Themen an, die für viele Menschen noch heute aktuell sind. Aber ebenso bin ich mir sicher, dass „Wir haben schon immer im Schloss gelebt“ nicht den Geschmack jedes Lesers trifft. Es ist ein Roman, der polarisiert: Entweder man liebt ihn oder lehnt ihn als langweiligen Erlebnisbericht eines gestörten Teenagers ab.

Doch wie komme ich zu meiner Einschätzung? Ganz einfach: Der Lesegenuss hängt ganz wesentlich davon ab, wie weit man sich mit der Hauptperson Merricat identifizieren oder zumindest Interesse an ihr entwickeln kann. Der Haken an der Sache: Mary Katherine „Merricat“ hat ganz offenkundig psychische Probleme. Und davon nicht wenige. Und ich spreche in diesem Zusammenhang nicht von einem psychopathischen Genie, wie man sie in der Horror- und Thriller-Literatur an jeder Ecke findet. Nein, Merricat wirkt geistig vielmehr entwicklungsgehemmt. Sie glaubt an Magie und in ihrer Wahrnehmung haben die Regeln völkischen Aberglaubens mehr Bedeutung als gesellschaftliche Konventionen. Obwohl sie volljährig sein dürfte, wirkt ihr Verhalten oft wie das einer 11- bis 13-Jährigen.

Spätestens seit dem Tod ihrer Eltern flüchtet sich in die Natur und in Fantasiewelten. Damit steht sie im starken Kontrast zu ihrer Schwester Constance, die jeden Kontakt zur Außenwelt meidet, aber trotzdem ein Leben führt, das sich an den Gepflogenheiten der bürgerlichen Gesellschaft orientiert. Und daraus ergibt sich die seltsame Situation, dass die ältere und vernünftigere Schwester auf ihre jüngere Schwester angewiesen ist. Denn im Gegensatz zu Constance traut sich Merricat zum Einkaufen ins nahe gelegene Dorf. In jenes Dorf, in dem man die beiden Schwestern für Mörderinnen hält.

Ein Leben in Isolation – mit Hass als ewigem Begleiter

Merricat ist zumindest meiner Meinung nach kein durchgängig mögenswerter Charakter. Und dennoch war ich vom Roman fasziniert. Denn Shirley Jackson schafft es vor allem zu Beginn der Erzählung, Merricat Situationen durchleiden zu lassen, die manche von uns nur zu gut kennen dürften. Die stetige Ablehnung und Abwertung durch eine Gruppe von Menschen, gegen die man sich nicht wehren kann: Es ist das leise Getuschel der Nachbarn hinterm Rücken der Betroffenen, die Abwertung einer Person aufgrund von Gerüchten und mitunter die offen zur Schau gestellte Verachtung, sobald sich die Dörfler sich in einer Position der Überlegenheit glauben.

Solche sozialen Mechanismen sieht man auch heute noch: Sei es beim gemobbten Einzelgänger in der Schule oder beim Arbeitskollegen, über dessen Kleidungsstil heimlich gelästert wird, während man sich vorm Chef kollegial präsentiert. Und man sieht es vielerorts im städtischen Nachtleben, wenn Ausländer, Exoten oder schlicht sogenannte „bunte Vögel“ den Beleidigungen Betrunkener ausgesetzt sind, sobald diese meinen, aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit nichts befürchten zu müssen.

Dieses Gefühl der ständigen Abwertung fängt Shirley Jackson gut ein. Und ebenso den Hass, der sich daraus entwickelt. Der sich eben nicht sofort bei der ersten Provokation schlagartig entlädt, sondern nach all den Jahren vielmehr zum stetigen Begleiter und Kommentator wird. Und für den Leser kann es durchaus sehr unterhaltsam sein, wenn Merricat die hinter falscher Freundlichkeit getarnten Sticheleien gedanklich kommentiert. Für beide Schwestern wird es Leitsatz, sich ihre Trauer und Wut nicht anmerken zu lassen. Aber innerlich brodelt es in Merricat, wenn die Dorfkinder ihr wieder einmal Spottlieder hinterherrufen:

Ich versteckte mich ganz tief in mir, aber ich konnte sie dennoch hören und aus den Augenwinkeln sehen. Ich wünschte mir, sie würden dort alle tot am Boden liegen. […] Ihre Zungen werden brennen, als hätten sie Feuer geschluckt, Ihre Kehlen werden brennen, wenn die Wörter herauskommen, und in ihren Eingeweiden werden sie Qualen erleiden, die heißer als tausend Feuer sind.“1Shirley Jackson: Wir haben schon immer im Schloss gelebt. Leipzig: 2019. S. 33. f.

Aber Shirley Jackson begeht nicht den Fehler, die jüngere Schwester ausschließlich als Opfer zu skizzieren. Denn das Merricat es ihrem Umfeld oft nicht leicht macht, wird im Verlauf des Romans sehr deutlich.

 

 

Oft unterschlagen: der Humor in „Wir haben schon immer im Schloss gelebt

Der Roman „Wir haben schon immer im Schloss gelebt“ wird meist als Horror-Roman bezeichnet. Er enthält jedoch keine direkten Schocker und setzt auch nicht auf eine voranpeitschende Handlung mit vielen Wendungen. Der Horror ist vielmehr subtil: Erst, wenn man sich etwas stärker in die einzelnen Figuren hineinversetzt, entfaltet er seine beklemmende Atmosphäre. Allerdings erfordert dies vom Leser ein aktives Hineindenken, sobald es um andere Figuren als Merricat geht. Denn der Roman ist praktisch vollständig aus ihrer Sicht erzählt. Es gibt keinen tatsächlichen Einblick in die Gedankengänge anderer Figuren. Hier ist es am Leser selbst, diese Leerstellen zu füllen.

Was meiner Meinung nach aber bei vielen Rezensionen unterschlagen wird, ist der knochentrockene Humor, der im nüchternen Schreibstil Jacksons immer wieder aufblitzt. Das gilt insbesondere für die Dialoge der Blackwood-Schwestern mit ihren Onkel Julian, der akribisch an der Aufklärung der Familientragöde arbeitet, aber gleichzeitig an Erinnerungslücken leidet. Die ganze Konstellation dieser bizarren Blackwood-WG hat an sich schon etwas Groteskes. Und immer wieder gibt es einzelne kurze Sätze, die auch Witz in die Erzählung bringen. Insofern könnte man den Roman statt als Horror ebenso gut als beklemmende Tragikomödie bezeichnen. Hier der Einstieg eines Gespräches zwischen Julian und Constance, in dem der Onkel der Nichte von seinem Manuskript erzählt:

„Ich denke, ich sollte wirklich mit Kapitel 44 anfangen“, sagte er und rieb sich dabei die Hände. „Ich glaube, ich fange mit einer leichten Übertreibung an und mache dann mit einer glatten Lüge weiter. Constance, meine Liebe?“

„Ja, Onkel Julian?“

„Ich werde schreiben, dass meine Frau schön war.“2Shirley Jackson: Wir haben schon immer im Schloss gelebt. Leipzig: 2019. S. 111.

Ohnehin stellt der ganze Roman die Horror-Tradition auf den Kopf: Die Bewohner des finsteren Schlosses leben dort zwar zurückgezogen, aber haben durchaus glückliche Momente. Von ihnen geht keine Gefahr für die Dörfler aus. Das Zusammenleben der noch verbleibenden Blackwoods wird erst dann aus der Bahn gerissen, als der materialistisch denkende Cousin der Schwestern sich für einige Tage im Schloss einquartieren möchte. Der Einzug des vermeintlich normalen“ Blackwoods wirkt im Roman wie eine Bedrohung der Lebenswelt der verschrobenen Schlossbewohner.

Unzweifelhaft spiegelt der Roman auch die Biografie der Autorin wider, die als berüchtigte Horrorschriftstellerin in einem Dorf lebte, in dem sie von den dortigen Bewohner argwöhnisch beurteilt wurde, und die sich gegen Ende ihres Lebens aufgrund einer Agoraphobie kaum noch aus dem Haus traute.

Und wie schon in anderen Werken überzeugt Shirley Jackson auch in „Wir haben schon immer im Schloss gelebt“ vor allem dann, wenn sie die Fratze des Bösen hinter der Fassade des Gutbürgerlichen sichtbar macht.

 

Fazit

Der Roman setzt eher auf beklemmende Atmosphäre als auf rasante Handlungsbögen und Schockelemente. Ob man ihn mag oder nicht, steht und fällt mit der Bewertung der Hauptfigur Merricat, aus deren Sicht die gesamte Geschichte erzählt wird. Meiner Meinung nach beleuchtet der Roman sehr überzeugend, welche sozialen Mechanismen greifen, sobald Außenseiter sich mit einer Gruppe auseinandersetzen müssen, die sie insgeheim hasst. Gleichzeitig ist der Roman eine überaus geschickte Umkehr der Horror-Tradition, in der die Bedrohung der gewohnten Welt nicht von Monstern und Gespenstern ausgeht, sondern von konservativen Bürgern mit (vermeintlich) besten Absichten. Wem der Sinn allerdings eher nach straff erzählter Action, Blut und Splatter steht, der sollte zu anderen Veröffentlichungen greifen.

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Titel: Wir haben schon immer im Schloss gelebt
Originaltitel: We Have Always Lived in the Castle
Autorin: Shirley Jackson
Übersetzerin: Eva Brunner
Verlag: Festa Verlag
ISBN-13: 978-3865527097
Format: Gebunden
Seitenanzahl: 256 Seiten
Erschienen: Mai 2019 | Erstveröffentlichung: September 1962



Autor: Marius Tahira

Blogger und hauptsächlich Verantwortlicher der Website marius-tahira.de, auf der er sich den Genres Horror, Dystopie und Thriller widmet. Nach einer Verlagsausbildung und seinem Germanistikstudium war er lange Zeit im Lektorat tätig und arbeitet nun im Bereich der Suchmaschinenoptimierung.

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