Japanische Geister: Rache über den Tod hinaus

Japanischer Geist in verfallenem Gebäude

Viele Leser dürften sie insbesondere aus den Horrorfilmen der 2000er kennen: Japanische Geister. Meist in Form bleicher Frauen mit verzerrten, haarverhangenen Gesichtern bringen sie Tod und Verderben über die Lebenden. In vielen Fällen ist der Schrecken, den diese Gespenster verbreiten, nichts anderes als Rache für zuvor erlittenes Leid. Und meist wurde den Verstorbenen dieses Leid im familiären oder Beziehungsumfeld zugefügt.

Wie kaum eine andere Figur der japanischen Mythologie hat der Rachegeist – der sogenannte Onryō (怨霊) – Anfang dieses Jahrtausend einen erstaunlichen Popularitätsschub erfahren. Das hängt vor allem mit dem Auftauchen solcher Geister in zahlreichen modernen Horror-Romanen und -Filmen zusammen. Doch natürlich reichen die Wurzeln des japanischen Rachegeistes deutlich weiter zurück. Dieser Artikel bietet einen Überblick über den Onryō, seine Merkmale und seine Bedeutung in Literatur und Film.

 Obake, Yukai und Yurai –­ Fabelwesen im japanischen Volksglauben 

Fabelwesen diverser Art werden im Japanischen unter dem Begriff Obake (お化け) zusammengefasst. Ebenfalls üblich ist die Bezeichnung Bakemono (化け物). Beide Begriffe leiten sich vom Verb bakeru (化ける) ab, das so viel wie „sich verwandeln“ bedeutet. Bei diesen Wesen handelt es sich also um Kreaturen, die die Fähigkeit haben, sich zu verwandeln, oder die erst durch eine Wandlung zu übernatürlichen Wesen wurden. Letzteres trifft beispielsweise auf Geister zu, die vor ihrem Tod eben noch der natürlichen Welt zuzurechnen waren. Die japanische Mythologie unterteilt diese Obake in zwei Untergruppen:

  • Yōkai: Der Begriff Yōkai (妖怪) stellt eine Art Sammelbezeichnung für Monster, tierische oder tierähnliche Fabelwesen, Kobolde usw. dar. All diese Kreaturen zeichnen sich durch mehr oder weniger starke magische bzw. übernatürliche Kräfte aus. In der Edo-Zeit (1603–1868) erfanden zahlreiche Künstler eigene Yōkai – und nicht jeder davon entstammte ursprünglich dem Volksglauben. Bei einigen ist es tatsächlich so, dass zuerst ein Künstler sich entsprechende Kreatur ausdachte und diese erst nachträglich durch Erzählungen Bestandteil von Märchen und Schauergeschichten wurden.
  • Yūrei: Bei den Yūrei handelt es sich um klassische Totengeister. Der Begriff Yūrei (幽霊) an sich bedeutet schon so viel wie dunkler Geist/dunkle Seele. Es handelt sich also um die Seelen Verstorbener, die aufgrund bestimmter Ereignisse keine Ruhe nach dem Tod finden und daher an die Welt der Lebenden gebunden bleiben.1Eine sehr viel ausführlichere und genauere Definition von Yōkai, Yūrei und Onryō bietet Elisabeth Scherer. Vergleiche hierzu: Elisabeth Scherer: Spuk der Frauenseele. Weibliche Geister im japanischen Film und ihre kulturhistorischen Ursprünge. Bielefeld: 2011. S. 35 bis 50.

Von den sogenannten Kami, den im Shintoismus verehrten Geistern und Göttern, heben sich beide oben genannten Gruppen meist durch ihre Machtfülle ab. Und im Gegensatz zu den Kami erfahren Yōkai und Yūrei meist auch keine besondere Form der Verehrung. Im Folgenden soll es nun um die Yūrei gehen – beziehungsweise eine spezielle Form der Yūrei: den Rachegeistern.

Rache an den Lebenden: Der Onryō als Sonderform der Yūrei

Japanischer Geist der Edo-Zeit als Zeichnung
Das typische Erscheinungsbild der Yūrei wurde erst in der Edo-Zeit zunehmend Konsens. Insbesondere auch durch Malereien wie die des japanischen Künstlers Sawaki Suushi dürfte sich die Vorstellung des blassen Geistes im weißen Totengewand verbreitet haben. Doch wurde und wird durchaus auch von Yūrei in anderer Gestalt erzählt.

Studiert man die Schriften und Zeichnungen der Edo-Zeit, fällt auf, dass die Yūrei als klassische Totengeister erstaunliche Ähnlichkeiten zu europäischen Gespensterbeschreibungen aufweisen: Meist sind sie von unnatürlicher Blässe, werden mit einem weißen Totengewand dargestellt und bewegen sich über den Boden schwebend fort. Auf den frühen Holzschnitten und Tuschezeichnungen sind in der Regel weder Beine noch Füße zu erkennen, dafür ist das Haar der Yūrei meist ungewöhnlich lang und kräftig (ein Merkmal, dass auch die modernen Horrorfilm-Yūrei aufweisen).

Und auch die Ursachen dafür, dass die Seele des Verstorbenen keine Erlösung findet, ähneln denen, die in europäischen Gespenstersagen überliefert sind: Das Fehlen eines ordentliches Begräbnisses, Selbstmord oder ein grausamer oder zu früher Tod.

Allerdings sind Yūrei den Überlieferungen zufolge nicht per se eine Gefahr für Menschen. Einige haben auch nur das Bedürfnis, sich noch ein letzten Mal ihren Angehörigen zu zeigen, bevor sie sich für immer von der Welt der Lebenden verabschieden. Es ist jedoch immer ein Gefühl des Unerfüllten, das den Totengeist an die stoffliche Welt bindet: eine unerfüllte Liebe, Sehnsucht oder unvollendete Rache. Und mit Rache ist auch das Stichwort gefallen, um zu den Onryō überzuleiten.

Die Onryō bilden eine spezielle Art der Yūrei. Und sie sind definitiv eine Gefahr für alle Lebenden. Und sie sind es auch, die das Bild japanischer Geister im modernen Horrofilm bis heute prägen. Bei den Onryō handelt es sich um Rachegeister von Menschen, die einen ungeheuren Zorn auf etwas empfinden. Meist resultiert dieser Zorn und der damit verbundene Rachegedanke aus den Umständen ihres Todes: Sie wurden ermordet oder von anderen Menschen in den Selbstmord getrieben.

In den Geschichten gibt es sowohl Onryō, die gestaltlos sind, als auch solche, die in ihrem toten Körper auf Erden wandeln. Einige können sogar den Körper fremder Menschen besetzen und kontrollieren, um ihnen auf diese Art Schaden zuzufügen.

 

Entstehung des Onryō: Die zerrüttete Familie als Keimzelle des Hasses

Die Professorin Valerie Wee zeigt in ihrer Analyse japanischer Horrorfilme und ihrer amerikanischen Remakes auf, dass sich in vielen Geisterfilmen die Angst vor dem Zerfall traditioneller Familienbilder widerspiegelt.2Das zeigt sich insbesondere in ihrer Analyse der Filme „Dark Water“ und „The Grudge“. Vgl. Valerie Wee:  Japanese Horror Films and their American Remakes. Abingdon, New York: 2014. S. 99 bis 150. Beziehungsweise die Angst davor, wie eine Abweichung der bewährten Familienkonzepte die bisherige Ordnung bedroht.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Gilt das nur für die modernen Horrorfilme oder führt die Bedrohung des Familienzusammenhalts und der Verstoß gegen traditionelle Rollenbilder nicht bereits in vielen frühen japanischen Gespenstergeschichten zur Entstehung von Rachegeistern?

Auffallend ist die hohe Zahl an weiblichen Onryō: sowohl in den alten Geistergeschichten der Edo-Zeit als auch in neueren Horrorfilmen. Im traditionellen japanischen Familienbild wirkt die Frau als moralische Instanz im Haus und erzieht die Kinder. Der Mann hingegen sorgt für den Lebensunterhalt und beschützt die Familie vor Schaden. In vielen japanischen Gespenstergeschichten wird diese Ordnung allerdings bedroht: Oft tritt der Mann in ihnen nicht als Beschützer der Familie auf, sondern zerstört die familiäre Ordnung sogar. Er bringt Schande über seine Familie, betrügt seine Ehefrau oder ermordet seine Kinder. Die Ehefrau oder Geliebte kehrt nach ihrem Tod als Onryō zurück und richtet ihren unheilvollen Zorn gegen den Mann.

 

Japanische Geister in Erzählungen und Bühnenstücken des 17. bis 19. Jahrhunderts

Die Geschichte der Oiwa: Rache einer vielfach Betrogenen und Misshandelten

In Japan überaus populär ist die Geschichte um den Geist Oiwa. Die ersten Erzählungen um diesen Geist entstammen dem 17. Jahrhundert und ranken sich um die ca. 1623 verstorbene Tamiya Oiwa. Mit der Zeit wurden diese Erzählungen mit immer grausameren Details ausgeschmückt und dramatisiert. Den größten Einfluss auf die nachfolgenden Werke dürfte das erstmals 1825 aufgeführte Kabukistück „Yotsuya kaidan“ (Die Gespenstergeschichte von Yotsuya) haben.

Oiwa: Ein japanischer Geist
Eine Zeichnung Oiwas von dem Künstler Utagawa Kuniyoshi aus dem Jahre 1836.

In diesem Stück geht es unter anderem um die junge Oiwa und ihren Ehemann Tamiya Lemon, der ein herrenloser Samurai (Rônin) ist. Der Vater Oiwas findet heraus, dass Lemon seinen inzwischen verstorbenen Herren in der Vergangenheit bestohlen hat. Er verlangt daraufhin von seiner Tochter, dass sie sich von ihrem ehrlosen Mann trennt. Lemon erfährt davon und erschlägt Oiwas Vater in deren Abwesenheit. Die Ermordung des Vaters kommt ans Licht, doch Oiwas weiß nicht im geringsten, wer der Täter ist. Doch Lemon verspricht Oiwa, den Tod ihres Vaters zu rächen, wenn sie nur bei ihm bliebe! (Richtig gelesen: Er selbst erschlägt Oiwas Vater, um ihr anschließend zu versprechen, den Mörder zu stellen!)

Und tatsächlich bleiben die beiden zusammen und bekommen sogar ein Kind. Lemon ist seiner Ehefrau inzwischen jedoch überdrüssig. Das Ganze verschärft sich, als Lemon bemerkt, dass sich inzwischen Oume, eine Frau vornehmster Herkunft in ihn verliebt hat. Der ehemalige Samurai lebt verglichen zu seiner früheren Position hingegen verhältnismäßig arm. Oumes Vater will die Beziehung der beiden vorantreiben und lässt Oiwa ein Gift verabreichen, das sie entstellt und zu seiner offenen Stirnwunde führt. Nun ist die junge Oiwa also nicht nur arm, sondern auch abstoßend hässlich.

Ausschnitt aus dem Film "Ghost of Yotsuya"
Das Stück „Yotsuya Kaidan“ wurde vielfach verfilmt. Hier ein Ausschnitt aus dem 1959er-Film von Nakagawa. 1949 hatte bereits der Regisseur Keisuke eine Filmversion geschaffen, in der er die geisterhaften Elemente reduzierte, Lemon menschlicher wirken ließ und sich vor allem auf dessen schuldgeplagte Psyche konzentrierte.

Lemon überlegt nun, wie er die Ehe mit Oiwa auflösen kann. Schließlich fordert er einen Freund auf, Oiwa zu vergewaltigen, um sich anschließend wegen Untreue von ihr trennen zu können (Ja, ein richtiges Herzchen). Oiwa kann sich jedoch mit einem Dolch gegen die Vergewaltigung wehren und erfährt sogar von ihrem Peiniger, welche Intrige gegen sie geschmiedet wurde. Rasend vor Zorn und schwer verletzt macht sie sich auf den Weg zum Vater ihrer Nebenbuhlerin. Doch bei einem unglücklichen Sturz kommt sie zu Tode. Lemon findet sie und lässt sie ihn einen Fluss werfen, um danach Oume zu heiraten.

Nach dieser Zusammenfassung bedarf es eigentlich kaum noch einer Erläuterung, inwieweit Tamiya Lemon seiner Rolle als Beschützer der Familie nicht gerecht wurde. Er erschlägt den Vater seiner Braut, befiehlt deren Vergewaltigung und heiratet später in jene Familie ein, die Oiwa vergiftet hat. Aber Lemon ist nicht nur hinsichtlich seiner familiären Pflichten das absolute Gegenteil eines fürsorglichen Beschützers. Auch was seine gesellschaftliche Position betrifft, ist er ein Zerrbild dessen, was in der japanischen Gesellschaft erwünscht war. Als Samurai war er eigentlich einem Ehrenkodex verpflichtet und hatte eine verantwortungsvolle Position. Doch noch als Samurai bestahl er seinen eigenen Herrn. Sein moralischer Verfall nimmt im Verlauf der Handlung dann stetig zu.

Doch wie nimmt diese Geschichte nun ihren Ausgang? Nach seiner Gräueltat sieht Lemon unentwegt das geisterhafte Gesicht Oiwas: Selbst in Lampions erkennt er es und wird zunehmend paranoid. Schließlich sieht er Oiwa sogar im Anlitz seiner neuen Frau Oume. Im Glauben, sie sei Oiwa, bringt er Oume noch in der Brautnacht um und verfällt schließlich vollends dem Wahnsinn.

 

Zu den aktuelleren Filmen, die das Bühnenstück „Yotsuya Kaidan“ aufgreifen, gehört der Horrorfilm „Over your dead body„. In diesem wollen einige Schauspieler eben jene Geistergeschichte aufführen. Darüber hinaus wurde die Gespenstergeschichte inzwischen auch mehrfach als Anime verfilmt.

 

Die Legende von Okiku: Getötet, weil sie das Begehren ihres Herren nicht erwiderte

 

 

Die Heimsuchung des skrupellosen Mannes ist häufiges, aber nicht einziges Motiv der frühen Onryō 

In den vorangegangenen Geschichten ist die Schuldverteilung eindeutig. Doch nicht immer ist dem weiblichen Geist vor seiner Rache Gewalt durch einen Mann  angetan worden. Und nicht immer trifft die Rache einen Mann. Aber stets geht der Entstehung eines Onryō eine äußerst extreme Gefühlsregung voraus. In dem nachfolgendem Beispiel ist es Eifersucht:

In einer durch den irisch-griechisch-stämmigen Schriftsteller Japankenner Lafcadio Hearn überlieferten Erzählung liegt die Hauptfrau eines Daimyō (vergleichbar mit einem deutschen Fürsten) im Sterben. Dieser hat mehrere Nebenfrauen und es wird angedeutet, dass die Sterbende insbesondere auf die 19-jährige Yukiko eifersüchtig ist. Sie bittet ihren Mann und später auch Yukiko um ein Gespräch und wirkt in diesem äußerst versöhnlich. Sie hoffe, dass Yukiko nun bald die neue Hauptfrau des Daimyō wird und sein Herz immer nur ihr gehören werde. Nur einen letzten Wunsch solle Yukiko ihr noch erfüllen. Die Sterbende möchte, dass das Mädchen sie zu den prächtigen Kirschbäumen trägt, deren Anblick sie immer so geliebt hat. Yukiko stimmt dem zu, doch kaum trägt sie die Sterbende auf dem Rücken, greift diese ihr über die Schultern unters Gewand, fängt an hysterisch zu lachen und stirbt.

„Sofort sprang alles zu, die Leiche von Yukikos Schultern zu lösen und sie auf das Bett zu legen, aber, seltsam, so leicht es scheinen sollte – es war unmöglich: Die erstarrten Hände hatten sich auf unerklärliche Weise in die Brüste des Mädchens festgekrallt – waren wie verwachsen mit dem frischen, lebenden Fleisch.“3Lafcadio Hearn: Japanische Geistergeschichten. Hrsg. v. Gustav Meyrink. Köln: 2013. S. 12.

Man sieht die einzige Rettung für Yukiko darin, der Leiche die Hände abzuhaken, die aber weiterhin mit Yukiko verwachsen bleiben. Die Hände altern daraufhin schlagartig, doch sind weiterhin von dem Hass und der Eifersucht der Verstorbenen beseelt. In den Nachtstunden regen sie sich und quälen die verfluchte Yukiko. Diese bleibt unverheiratet und muss über Jahrzehnte Schmerzen erdulden. Ein aus Eifersucht der Toten entstandener Onryō vollzieht also die Rache, die die Frau des Daimyō zu ihren Lebzeiten nicht vollführen konnte.

Aus heutiger Sicht mag man denken, dass bereits die Vielehe ein Vergehen des Daimyō wäre, doch zur damaligen Zeit gehörte Polygamie unter den Herrschern zur Normalität. Darüber hinaus verhalten sich sowohl der Daimyō  als auch Yukiko in der Geschichte äußerst respektvoll gegenüber der Sterbenden. Anders als in den vorherigen Geschichten trifft die Rache des Geistes mit Yukiko zudem eine Person, die als Frau ja ebenfalls den Gepflogenheiten einer patriarchischen Gesellschaft unterliegt. Insofern resultiert die Rache des Geistes nicht daraus, dass jemand seiner ihm angedachten Rolle in der Gesellschaft nicht gerecht würde. Vielmehr greift hier das klassische Motiv der Eifersucht, die zu einem über den Tod hinausdauernden Groll führt.

Zeichnung des japanischen Geistes Kohada Koheji
Eine weitere Zeichnung des Künstlers Hokusai, angefertigt um 1831/32: der Geist Kohada Koheji.

Und auch, wenn ein auffällig hoher Anteil der japanischen Geister der Edo-Zeit weiblich ist, so gibt es auch immer wieder Geschichten von männlichen Onryō. Eine davon handelt beispielsweise von dem Schauspieler Kohada Koheiji. Dessen Frau verliebt sich in einen anderen Schauspieler und gemeinsam planen die beiden, Koheiji zu töten. Nach seiner Ermordung sucht Koheiji seine untreue Ehefrau als Geist heim und treibt sie in den Wahnsinn. In der Geschichte Shiryō hingegen fährt der Geist des verstorbenen Destriktverwalters Yajiyemon in ein Mädchen, nachdem seine ihm früher untergebenen Beamten Dokumente gefälscht hatten. Laut diesen würde er der Obrigkeit noch gewaltige Summen schulden. Die Beamten wollen sich nun am Besitz seiner Familie bereichern. In der Gestalt des Mädchens deckt Yajiyemon den Betrug auf und die Beamten werden für ihre Verbrechen bestraft.4Lafcadio: Japanische Geistergeschichten. S. 117 bis 120.

Was im Vergleich zu den alten Gespenstergeschichten Japans auffällt, ist, dass die ohnehin schon geringe Zahl männlicher Onryō in den modernen Horrorfilm-Produktionen noch einmal abnimmt. Dafür gewinnt das geisterhafte Kind an Bedeutung. Die Angst vor den Folgen der fortschreitenden Auflösung der traditionellen Familie spiegelt sich in der Figur des sich rächenden Kindgeistes wider. Im folgenden Abschnitt möchte ich genauer darauf eingehen.

Japanische Geister in Horror-Romanen und -Filmen seit den 1990ern

Das japanische Erziehungsbild war lange vom Konfuzianismus geprägt. Aus diesem leitete man zahlreiche Verhaltensregeln ab, die unter anderem auch die Beziehung innerhalb der Familie lenken und zum Positiven beeinflussen sollten. In der Meiji-Zeit (1868 bis 1912) galt für Frauen insbesondere die Ryōsai Kenbo (良妻賢母) als gesellschaftliches Ideal: die gute Ehefrau und weise Mutter.

Sie sollte sich um den Zusammenhalt der Familie und die Erziehung der Kinder kümmern, während der Mann für die finanzielle Sicherheit der Familie sorgt. Spätestens Ende der 1980er-Jahre war dieses Ideal in zahlreichen Familien jedoch nicht mehr aufrechtzuerhalten: Die wirtschaftliche Lage Japans verschlechterte sich und viele Frauen mussten berufstätig werden, um ihre Familien finanziell abzusichern. Gleichzeitig stieg die Scheidungsrate rapide an. Aber dennoch galten weiterhin die alten Idealvorstellungen, die in der Realität jedoch oft keine Entsprechungen mehr fanden.

In diesem Zusammenhang sehr bemerkenswert ist, dass in Horrorfilmen der späten 90er und 2000er-Jahre häufig japanischen Rachegeister in Gestalt von Kindern oder Jugendlichen ihr Unwesen treiben. Dies kann durchaus Ausdruck einer gesellschaftlichen Angst sein, dass die Auflösung klassischer Familienbilder zu einer Verrohung der Jugend führe. Tatsächlich berichteten in den 90er-Jahren die großen japanischen Tageszeitungen immer wieder kritisch über das Verhalten von Jugendlichen: Mobbing und Gewalt würden zunehmen, die Mädchen sich für Geld und Geschenke an ältere Männer verkaufen. Damit will ich keineswegs sagen, dass es seit den späten 80ern tatsächlich zu einer Verrohung der japanischen Jugend kam, doch wurde es von den Medien oft so dargestellt und von vielen so empfunden.5Zu den Erwartungen an japanische Jugendliche und deren Selbstbild siehe auch: Stephanie Osawa: Grenzbestimmungen – Grenzüberschreitungen. Normbrüche aus Sicht devianter Jugendlicher in Japan. In „Japan in der Krise: Soziale Herausforderungen und Bewältigungsstrategien“, hrsg. v. herausgegeben von Annette Schad-Seifert, Nora Kottmann.  Wiesbaden. 2019. S. 147 bis 170.

Betrachtet man drei der populärsten Horrorfilme, in denen japanische Geister eine Rolle spielen, fällt auf, dass in allen familiäre Probleme zur Entstehung des Onryō beigetragen haben. Die Rede ist von „Dark Water“, „The Ring“ und „The Grudge“. Da die beiden erstgenannten Filme auf Geschichten des Schriftstellers Kōji Suzuki basieren, ist davon auszugehen, dass Familienkonflikte ab den 90ern durchaus auch in der Horrorliteratur und nicht nur im Film ein zentrales Motiv japanischer Geistergeschichten sind.

Dark Water: Das von der Mutter vernachlässigte Kind als Onryō

Dark Water (2002) ist ein Paradebeispiel dafür, wie der moderne japanische Horrorfilm die sich verändernde Rolle der Frau aufgreift: In dem Film richtet sich die alleinerziehende Matsubara Yoshimi mit ihrer Tochter Ikuko in einer neuen Wohnung ein. Der Sorgerechtsstreit mit ihrem Ex-Mann ist noch am Laufen und Yoshimi auf der Suche nach einem Job. In der neu bezogenen Wohnung quillt jedoch unaufhörlich Wasser aus der Decke. Der daraus entstehende Fleck vergrößert sich im Verlaufe des Films immer mehr.

Während des Films findet Yoshimi heraus, dass in dem Haus zuvor schon einmal eine Mutter mit ihrem Kind gelebt hat. Das Kind – Mitsuko – wurde von ihrer Mutter regelmäßig vernachlässigt, sodass es sich eines Tages unbemerkt aus der Wohnung schleichen konnte und beim Klettern auf dem Dach  des Hauses unbeabsichtigt in einen Wassertank gefallen und dort ertrunken ist. Ihr Geist sucht nun Yoshimi und deren Tochter heim. Der Geist Mitsukos verursacht auch diesen dunklen Wasserfleck, der auf ihre Todesart hindeutet.

In diesem Film ist der Onryō indirekt durch die fehlende Aufmerksamkeit seiner Mutter entstanden. Und der Regisseur Hideo Nakata deutet in mehreren Szenen Parallelen in der Mutter-Kind-Beziehung der aktuellen und früheren Hausbewohner an: So zeigt er uns sowohl Ikuko als auch Kitsuko in einer Szene vor dem Kindergarten auf ihre Mütter wartend. Bei beiden Töchtern wird deutlich, dass ihre Mütter sie unnötig lange warten lassen. Das bedrückende Gefühl, dass die Töchter dabei empfinden, wird inszenatorisch durch den beständig fallenden Regen unterstrichen. Immer wieder wird angedeutet, dass Ikuko mit ihrer Mutter und der Scheidung ihrer Eltern unglücklich und unter Gleichaltrigen sozial isoliert ist. Gegen Ende des Films lebt Ikuko dann bei der neuen Familie ihres Vaters. Die Wolken haben sich verzogen und Ikuko ist mit anderen Altersgenossen unterwegs.

Das Verhalten des Onryō in Dark Water ist insofern untypisch, dass Kitsuki zunächst Yoshimi als eine Art Ersatzmutter begehrt. Sie möchte also keine Rache nehmen. Hier ist es also der bis in den Tod unerfüllte Wunsch des Kindes nach mütterlicher Aufmerksamkeit, der zur Entstehung des Onryō führt. Erst als sich abzeichnet, dass Yoshimi ihr diesen Wunsch verwehrt und angsterfüllt auf das Wirken des Geistes reagiert, werden dessen Spukerscheinungen deutlich aggressiver und bedrohlicher.

 

Ringu: Die Eltern Sadakos – nervenkrank, schwach oder Mörder der eigenen Tochter

Ob das japanische Ringu aus dem Jahre 1998, das amerikanische Remake The Ring“ aus 2002  oder die 1991 veröffentlichte Romanvorlage von Kōji Suzuki: Alle Versionen unterscheiden sich hinsichtlich der Familiengeschichte Sadakos bzw. Samaras, doch in sämtlichen Versionen ist ihre Familie alles andere als intakt.

In Ringu stehen die Themen Familienbindung und Familienkonflikte deutlich weniger im Mittelpunkt als bei Dark Water. Doch das, was man über die Vorgeschichte Sadakos – des wohl bekanntesten Onryō der Gegenwart erfährt,  lässt auf alles andere als eine glückliche Kindheit schließen. Ihre Mutter soll hellseherische Fähigkeiten besessen haben, doch die Zeitungen bezeichneten sie als Betrügerin, sodass sie gesellschaftlich geächtet war und schließlich Selbstmord beging. Es wird angedeutet, dass Sadako ihre übersinnlichen Fähigkeiten von der Mutter geerbt hat, doch statt sie darin zu unterrichten, wählt die Mutter den Freitod. Tatsächlich weist der Film sogar darauf hin, dass Sadako ihre übersinnlichen Fähigkeiten für ihre Mutter sogar das erste Mal zerstörerisch eingesetzt hat, indem sie einen der verleumderischen Reporter tötete.

Im japanischen Originalfilm wird Sadako von ihrem vermeintlichen Vater in einen Brunnen geworfen (mehrfach wird jedoch angedeutet, dass sie in Wahrheit aus einer Verbindung von mit einem Dämon entstanden sei). Im amerikanischen Remake The Ring verläuft die Familiengeschichte kaum glücklicher, nur dass es hier die nervenkranke Mutter ist, die ihr Kind in den Brunnen wirft.

Der Roman von Suzuki erzählt nochmal eine andere Familiengeschichte. Aber auch dort kann ein Familienmitglied nicht mehr seinen angedachten Aufgaben gerecht werden: Sadakos Vater leidet an Tuberkulose und muss in einem Krankenhaus gepflegt werden. Im Roman wirft der Arzt Nagao Jotaro, der sich um ihren Vater kümmert, die junge Sadako – nachdem er sie zuvor vergewaltigt hat – in den Brunnen.  Im Roman ist Sadako genetisch übrigens männlich und leidet unter einer Androgenresistenz, weswegen sie äußerlich weiblich wirkt. Schon allein dadurch entzieht sich auch die Figur Sadako selbst vollkommen den traditionellen Geschlechtsrollenbildern.

In allen Versionen überlebt Sadako den Sturz und verbringt ihre letzten Tage bis zum Tod im dunklen Brunnen voller Zorn auf ihre Peiniger. Wie andere Rachegeister aktueller Horrorfilme unterscheidet sie sich dabei jedoch insofern von den Onryō der Edo-Zeit, dass sie ihre Rache auch auf Unschuldige ausdehnt. Die Rache gilt nun nicht mehr dem einzelnen Täter, sondern der Menschheit an sich!

 

The Grudge: Die zorngetriebene Auslöschung einer ganzen Familie

In vielerlei Hinsicht wirken die Gespenster in The Grudge wie die Essenz dessen, was Onryō ausmacht. Als Menschen starben sie durch Taten, die von Zorn und Eifersucht geprägt waren. Und ihr Groll bleibt über den Tod hinaus bestehen.

Der 2004 von Takashi Shimizu abgedrehte Film erzählt die Geschichte eines Hauses, auf dem ein Fluch liegt: Jeder, der es betritt, wird früher oder später von einem Geist verfolgt und von diesem getötet. Wie kaum ein anderer Film kennzeichnet The Grudge die Zerstörung der Familienwelt durch beide Elternteile als Ursache für die Entstehung der Onryō. In Rückblenden und erschreckenden Visionen der Protagonisten erzählt der Film die Geschichte des Familienunglücks, das zu dem Fluch geführt hat:

Im Film treten sowohl Kayako Saeki als auch ihr Sohn Toshio als Geister in Erscheinung. Als junge Frau ist Kayako unglücklich mit ihrem Mann Takeo verheiratet. Doch statt sich scheiden zu lassen oder an ihrer Ehe zu arbeiten, steigert sie sich in eine manische Liebe zu einem Universitätsprofessor hinein. Dieser ist im Gegensatz zu ihr glücklich verheiratet, dennoch stellt Kayako ihm nach, sendet ihm Liebesbriefe und schreibt regelmäßig in ihrem Tagebuch nieder, wie sehr sie ihn liebt. Als ihr Ehemann Takeo dieses Tagebuch liest, überkommt ihn eine unbändige Wut. Er schlägt auf sie ein und bricht Kayako schließlich das Genick. Danach ertränkt er ihren gemeinsamen Sohn Toshio im Waschbecken und tötet dann sich selbst.

Übersteigerte Eifersucht, unerfüllte Liebe und mörderische Wut: The Grudge greift all die Emotionen auf, die in den alten Gespenstergeschichten seit jeher zur Entstehung von Rachegeistern führen. Und während Dark Water die Erosion der klassischen Kleinfamilie vergleichsweise subtil erzählt, wird in The Grudge eine ganze Familie in einem gewaltigen Zornesausbruch ausgelöscht. Nicht nur gemessen an den traditionellen Rollenbildern scheitern beide Elternteile aufs Extremste: Kayako, die im tradierten Idealbild als gute Ehefrau und weise Mutter“ auch die Moralinstanz des Hauses sein sollte, sehnt sich nach einem fremden, verheirateten Mann und ignoriert in ihrem egoistischen Begehren vollkommen, dass sie dadurch nicht nur ihre eigene Ehe, sondern auch die ihres angeblich Geliebten bedroht. Und Takeo ist nicht Beschützer, sondern Zerstörer seiner Familie. Sein Zorn überschreitet jedes gesunde Maß und trifft sogar seinen eigenen Sohn, der nach dieser Gräueltat als Onryō an die Welt der Lebenden gebunden bleibt.

Kennzeichnend für The Grudge ist, dass auch dort der Zorn der Geister nicht zielgerichtet einem bestimmten Tätertyp gilt, sondern unterschiedslos all jene trifft, die die frühere Behausung der Ermordeten Familie betreten.

Japanische Rachegeister: Entwicklung über die Jahrhunderte

Ein Vergleich der Onryō, wie sie in den  alten Erzählungen der Edo-Zeit beschrieben werden, mit den modernen Rachegeister japanischer Horror-Filme offenbart schnell, dass beide zahlreiche Gemeinsamkeiten haben. Das gilt für die blasse, kränkliche Haut ebenso wie für das meist lange offene Haar dieser Geistererscheinungen. Und stets war der Tod der später als Geist zurückkehrenden Menschen von großer Wut, Enttäuschung oder übersteigerter Leidenschaft geprägt.

Und schon damals waren es häufig Frauen, die als zu Lebzeiten gequälte Seelen selbst im Tod keine Erlösung erfuhren, sondern als Geist Rache an den Menschen nahmen. Hinsichtlich ihrer Rache selbst haben sich die Geschichten über die Onryō jedoch verändert. In den älteren Geistergeschichten galt die Rache der Onryō meist noch denjenigen Menschen, die direkt oder indirekt für ihr Leid verantwortlich gewesen waren. In den neueren Horrorfilmen wird diese Rache oft ausgeweitet auf alle Lebenden an sich. Die Schuld der Opfer spielt dabei keine Rolle mehr. 

Häufig resultiert die Entstehung der Rachegeister aus gestörten Paarbeziehungen oder Familienkonstellationen. Insbesondere in den neueren Horrorgeschichten ist die zerfallende oder bedrohte Familie praktisch Keimzelle, aus der ein Onryō geboren wird. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass ab den 90ern in Horrorgeschichten vermehrt Kinder und Jugendliche als Rachegeister die Welt der Lebenden terrorisieren. Der japanische Horrorfilm fungiert hierbei wieder einmal als Spiegel einer gesellschaftlichen Angst: Nämlich der, dass der Zerfall traditioneller Familienrollen zu einer verrohten bedrohlichen Jugend führt. Der Onryō ist in diesem Sinne auf die Spitze getriebenes Symbol für eine hasserfüllte und zerstörerische Jugend. Dadurch, dass die Familie als kleinste Einheit der Gesellschaft ins Chaos gestürzt wird, wird auch die Gesellschaft als Ganzes bedroht.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es Anfang der 2000er-Jahre im koreanischen Kino eine ganz ähnliche Entwicklung gab. Sowohl in dem Film Acacia als auch in dem filmischen Meisterwerk Tale of two Sisters führen die Bedrohung der Kernfamilie und die schuldhafte Verstrickung der Eltern zu unheimlichen Vorkommnissen, von denen diese Horrorfilme dann erzählen.



 

Webtipp

Wer weiterführende Infos zur japanischen Mythologie auch über den Geistergeschichten hinaus sucht, dem sei das vom Japanologen Bernhard Scheid gepflegte Web-Handbuch Religion in Japan des Institut für Kultur- und Geistesgeschichte Asiens der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ans Herz gelegt. Dort findet man weit mehr Informationen über die japanische Mythologie, als ich in diesem Artikel bieten kann.

 

Literaturverzeichnis

  • Hearn, Lafcadio: Japanische Geistergeschichten. Hrsg. v. Gustav Meyrink. Köln: 2013.
  • Scherer, Elisabeth: Spuk der Frauenseele. Weibliche Geister im japanischen Film und ihre kulturhistorischen Ursprünge. Bielefeld: 2011.
  • Osawa, Stephanie : Grenzbestimmungen – Grenzüberschreitungen. Normbrüche aus Sicht devianter Jugendlicher in Japan. In „Japan in der Krise: Soziale Herausforderungen und Bewältigungsstrategien“, hrsg. v. herausgegeben von Annette Schad-Seifert, Nora Kottmann.  Wiesbaden. 2019. S. 147–170
  • Wee, Valerie: Japanese Horror Films and their American Remakes (Routledge Advances in Film Studies, Band 27). Abingdon, New York: 2014.

Bildnachweise



Autor: Marius Tahira

Blogger und hauptsächlich Verantwortlicher der Website marius-tahira.de, auf der er sich den Genres Horror, Dystopie und Thriller widmet. Nach einer Verlagsausbildung und seinem Germanistikstudium war er lange Zeit im Lektorat tätig und arbeitet nun im Bereich der Suchmaschinenoptimierung.

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