Filmkritik: Leigh Whannells „Der Unsichtbare“ (2020)

Cecilia aus "Der Unsichtbare" mit einem Messer bewaffnet auf dem Dachboden

Leight Whannells „Der Unsichtbare“ wird ebenso häufig als Verfilmung des Romans von H. G. Wells bezeichnet wie als Neuinterpretation des Universal-Klassikers aus dem Jahre 1933. Tatsächlich hat er mit beiden Werken außer dem Namen und der groben Prämisse kaum etwas gemeinsam, sodass man in ebenso gut als unabhängigen Film betrachten kann. Denn statt die Geschichte eines dem Größenwahn verfallenden Wissenschaftlers zu erzählen, konzentriert sich Whannell auf die psychischen Leiden seiner Protagonistin, die in ständiger Angst vor einem unberechenbaren Machtmenschen lebt.

Und der Ansatz, den Fokus auf das seelische Martyrium seiner Protagonistin zu legen, erweist sich als Glücksfall. Denn Elisabeth Moss‘ Schauspiel trägt den Film hervorragend. Doch gegen einige Drehbuchschwächen kann auch sie nicht anspielen. Diese betreffen insbesondere das Filmende – und das ist insofern ärgerlich, dass Skript und Inszenierung in „Der Unsichtbare“ größtenteils eigentlich überzeugen.

Der Beginn: Bedrohlichkeit und menschliche Kälte spiegeln sich im Setting

Angst, Isolation und Paranoia – diese Gefühle vermittelt der Film bereits in den ersten Sekunden, wenn uns die Kamera über steile Klippen, an denen tosende Wellen zerschellen, zu einem abgelegenen Anwesen führt. Auf diesem erstreckt sich ein Luxusbau, der angesichts seiner sterilen Kälte und von Überwachungstechnik geprägten Ausstattung stark an den Schauplatz von „Ex Machina“ erinnert. Und wie in Garlands „Ex Machina“ lebt auch in diesem Haus ein brillanter Forscher und Selfmade-Milliardär.

Der Unsichtbare“ hält sich nicht lange mit Erklärungen auf, stattdessen wirft er den Zuschauer direkt ins Geschehen: Eine Frau versucht verzweifelt, an den Sicherheitssystemen vorbei aus dem Haus zu fliehen. Den Besitzer des Hauses bekommt der Zuschauer nie vollständig zu Gesicht, aber die wenigen Augenblicke, in denen man seine verschwommenen Umrisse in der Dunkelheit erkennt, reichen Regisseur Leigh Whannell aus, um zu zeigen, dass wir es hier mit einem ebenso gewaltbereiten wie herrschsüchtigen Mann zu tun haben.

Der Unsichtbare: Cecilia schleicht auf Socken aus dem Haus von Adrian Griffin
Bereits in den ersten Minuten von „Der Unsichtbare„wird der Zuschauer direkt ins Geschehen geworfen und erlebt mit, wie eine Frau aus einem hochtechnisiertem Haus flieht. (© Universal Pictures International)

Der Unsichtbare: Spoiler-Trailer par excellence

Horrorfilme und Thriller, die beängstigend sind oder dauerhaft Eindruck hinterlassen, teilen sich in der Regel ein entscheidendes Merkmal: das Ungewisse wird nie gänzlich aufgelöst, das Böse nie im Detail erklärt. Was im klassischen Kriminalfilm oder Drama dazugehört, nämlich die Erklärung der Handlung und des Täters, ist im Horrorfilm oder Thriller der Strick, der der Spannung das Genick bricht. Wenn im Nachhinein alles haarklein erklärt wird, verschwindet das letzte bisschen Ungewissheit. Und damit auch wohlige Unbehagen, das viele Zuschauer sich von solchen Filmen erhoffen.

Und was für die Erklärung im Nachhinein gilt, gilt natürlich insbesondere auch für eine Erklärung im Voraus. Und damit bin ich dann auch bei meiner ersten Warnung: Wenn ihr „Der Unsichtbare“ im vollen Umfang genießen wollt, dann schaut euch die offiziellen Trailer nicht an!

Die offiziellen Trailer sind so üppig mit Szenen aus dem Finale garniert, dass jedem Zuschauer die Richtung des Films klar ist, noch bevor er seine Kinokarte gekauft hat. Das mag aus Marketinggründen berechtigt sein, dennoch mindert es die Spannung beim Gucken beträchtlich, wenn der Trailer wesentliche Schlüsselszenen vorab verrät. Und genau aus diesem Grund bette ich hier ausnahmsweise keinen Trailer ein.

Der Unsichtbare erzählt die Geschichte einer furchtbeherrschten Frau

H.G. Wells Roman „Der Unsichtbare“ und die vorangegangenen Verfilmungen erzählen die Geschichte eines ambitionierten Wissenschaftlers, dessen Experimente unbeabsichtigt zu einer dauerhaften Unsichtbarkeit führen. Damit einher geht der moralische Verfall des Protagonisten. In Whannells Film spielt das alles allerdings kaum eine Rolle.

Nach dem spannungsgeladenen Auftakt erfahren wir schnell, dass es sich bei der Flüchtenden um Cecilia (Elisabeth Moss) handelt, der Ehefrau des Wissenschaftlers Adrian Griffin (Oliver Jackson-Cohen) – einem Spezialisten für Optische Systeme. Dieser hatte Cecilia in seinem Luxusanwesen permanent überwacht und kontrolliert. Cecilia taucht nach ihrer Flucht bei dem befreundeten Polizisten James (Aldis Hodge) unter und hält fortan selbst zu ihrer Schwester nur den allernötigsten Kontakt. Zu groß ist Cecilias Angst, dass Adrian über die Schwester auch den Weg zu ihr findet.

Adrian selbst wird auch weiterhin nicht gezeigt, aber die filmische Darstellung davon, wie die Furcht vor diesem Mann Cecilias Leben einschränkt, vermittelt dem Zuschauer überdeutlich, wie sehr sie in dieser Ehe gelitten haben muss. Sie traut sich kaum aus dem Haus und lebt bei ihrem Freund James wie eine Einsiedlerin. Als soziale Kontakte hat sie eigentlich nur James und dessen Tochter Sydney (Storm Reid). Doch dann erfährt Cecilia überraschend vom Selbstmord Adrians, dessen Vermögen sie erbt.

Eigentlich könnte Cecilia nun ein erfülltes Leben im Wohlstand führen. Doch schon bald häufen sich seltsame Ereignisse und Rückschläge in ihrem Leben: Cecilia verliert wichtige Unterlagen, obwohl sie fest überzeugt ist, diese eingesteckt zu haben, sie verbrennt das Essen beim Kochen, weil die Herdplatte plötzlich auf die höchste Stufe eingestellt ist, verschlossene Türen stehen auf einmal offen. Cecilia ist überzeugt, dass Adrian in Wirklichkeit doch noch lebt und sie aus dem Verborgenen weiter terrorisiert. Doch ihr paranoides Verhalten und die Hinweise auf einen Medikamentenmissbrauch lassen durchaus auch eine andere Deutung zu …

Der Unsichtbare: Cecilia muss in der Psychiatrie durch Rausstrecken der Zunge beweisen, dass sie ihre Tabletten geschluckt hat.
Cecilias Beteuerungen, dass ihr toter Mann noch lebt, wird verständlicherweise nicht von allen Menschen aus ihrem Umfeld Glauben geschenkt. (© Universal Pictures International)

Lebensechte Figuren und überzeugendes Schauspiel

Ein wesentlicher Grund dafür, dass Der Unsichtbare“ als Film so gut funktioniert: Die Figuren wirken größtenteils wie echte Menschen. Das fällt bereits rein optisch auf. Denn dankenswerterweise hat Whannell auf die Tradition diverser Teenie-Slasher verzichtet und nicht sämtliche Rollen mit Schauspielern besetzt, die aussehen, als seien sie gerade dem Cover eines Hochglanz-Mode-Magazins entstiegen. Die einzelnen Figuren sind weit mehr als nur Eye Candy und auch mehr als nur wegstreichbare Namen auf der Opferliste.

Wobei man es keineswegs mit einer komplexen Sozialstudie zu tun hat. Denn bis auf die Hauptfigur Cecilia sind alle anderen Rollen nur grob skizziert – aber das durchaus überzeugend. Es sind oft nur kurze Szenen und Dialoge, die verdeutlichen, wie die Chemie zwischen den Handelnden funktioniert. Doch das reicht aus, damit der Zuschauer sich ein Bild von ihnen machen und Sympathien entwickeln kann. Und Elisabeth Moss spielt ihre Rolle als Cecilia hervorragend: Man nimmt ihr die Rolle einer verängstigten Frau, deren Wille trotz traumatischer Erfahrungen nicht gebrochen ist, jederzeit ab. Und sie wird keineswegs nur als passives Opfer dargestellt: Cecilias psychische Probleme sind offensichtlich, aber sie versucht schrittweise wieder in ein normales Leben zurückzufinden und jenen Menschen etwas zurückzugeben, die sie unterstützt haben.

Der Film schafft es, dass man mit einigen Figuren mitfiebern kann, während einem andere von Herzen unsympathisch sind. Und das ist wesentliche Grundbedingung für die Spannung in einem Horrorfilm oder Thriller.

Überzeugend trotz Jumpscare-Dröhn: Musik und Kameraführung

Einige Schwächen vieler Horrorfilme umschifft Der Unsichtbare“ allerdings nicht. So spannungsgeladen der Auftakt des Films auch ist, leistet er sich dennoch eine im aktuellen Kino leider sehr verbreitete Unsitte: den billigen Versuch, Spannung durch Aufdrehen des Volume-Reglers zu erzeugen. Der Film zeigt eine leise Schleichszene? Zu Filmbeginn dröhnt der Score dann immer wieder plötzlich laut auf. Man erschreckt sich – aber nicht, weil irgendwas Spannendes passiert ist, sondern eben nur, weil es laut war!

Glücklicherweise nimmt das im Laufe des Films ab. Und vor allem in den actionreicheren Szenen funktioniert der von treibenden Streichern geprägte Score ganz ausgezeichnet und zieht den Zuschauer ins Geschehen mit hinein.

Hervorzuheben ist insbesondere auch die Kamera-Arbeit, die Cecilias Gefühl, heimlich beobachtet zu werden, überzeugend vermittelt. Mal glaubt man als Zuschauer, sie aus den Augen eines Beobachters zu sehen, mal verfolgt man das Geschehen aus ihrer eingeschränkten Perspektive. So entsteht ein ständiges Gefühl der Bedrohung, obwohl an äußerer Handlung zunächst nur wenig passiert.

Der Unsichtbare: Cecilia sitzt sichtlich angespannt und erschöpft bei ihren Freunden James und Sydney
Ihnen allen ist die Erschöpfung und Anspannung deutlich anzusehen. Whannell setzte bei der Besetzung und Darstellung der Filmfiguren auf Lebensnähe und Glaubwürdigkeit, statt auf durchgestylte Hollywood-Ästhetik. (© Universal Pictures International)

Der Unsichtbare ist spannend inszeniert, aber verschenkt Potenzial

Als atmosphärisch dicht erzählter Psychohorror funktioniert Der Unsichtbare“ über weite Strecken erstaunlich gut, auch wenn das ein oder andere Horrorklischee nicht ausgespart wird, und manch vermeintlicher Twist von dem Zuschauer vorausgesehen werden dürfte. Aber Leigh Whannell ist als Drehbuchautor (Saw, Insidious u.a.) erfahren genug, um diese Klischees nicht allzu lang breitzutreten. Er bedient kurz die Konventionen, um sich dann schnell dem Fortgang der Handlung zu widmen. Und die ist bis ins Finale hinein ebenso beklemmend wie spannend. Aber damit wären wir bei meinem wesentlichen Kritikpunkt an Der Unsichtbare„: Er findet nicht rechtzeitig zum Schluss und erzählt am Ende mehr, als notwendig wäre.

Wie bereits geschrieben, ist ein wesentliches Element vieler guter Horrorfilme oder Thriller, dass sie das Ungewisse nie völlig auflösen. Und ohne zu spoilern: „Der Unsichtbare“ bietet kurz vor Schluss zahlreiche Ansätze und Möglichkeiten für ein hervorragendes offenes Ende. Entweder eines, das dem Zuschauer zu einer eigenen Deutung zwingt, oder eines, das ihn mit einem Gefühl des schaurigen Unbehagens zurücklässt. Whanell entscheidet sich jedoch, über diesen Punkt hinaus zu erzählen. Und damit macht er einen Fehler, den man gerade in einem Film mit dem Titel Der Unsichtbare nicht machen sollte: Er zeigt zu viel! Und das ist insofern ärgerlich, dass die letzten Minuten auch mit einer meiner Meinung nach drastischen und unglaubwürdigen Charakteränderung einhergehen.

Viel konkreter kann ich an dieser Stelle nicht werden, ohne den Ausgang zu verraten. Trotz der genannten Kritikpunkte halte ich Der Unsichtbare“ aber für einen guten und spannenden Film. Doch hat man leider die Chance verpasst, mit ein paar geringfügigen Änderungen statt eines guten Films einen wirklich großartigen Film zu schaffen. So bleibt Der Unsichtbare“ ein spannender Genre-Film, der bis ins Finale überzeugt, dessen Ende aber bei kritischen Zuschauern durchaus einen schalen Nachgeschmack hinterlassen könnte.

Fazit zu Der Unsichtbare

Der Unsichtbare funktioniert als Psychodrama, das sich auf den Leidensweg seiner Protagonistin konzentriert, außerordentlich gut. Die Nebenfiguren wirken lebensecht und größtenteils sympathisch, doch es gibt auch Figuren, die man ausgiebig hassen kann. Bei der letzten Wendung kommt es aber zu einem starken Bruch zur vorangegangenen Charakterdarstellung. Zudem wird das Ende zu ausführlich und eindeutig inszeniert. Das mag jenen Zuschauern entgegenkommen, die alles haarklein erklärt bekommen wollen. Als beängstigender Horrorfilm oder Thriller hätte „Der Unsichtbare“ meiner Meinung nach aber mehr Wucht entfaltet, wenn man den letzten Twist deutlich kürzer abgehandelt und den Zuschauer mit einem offeneren Ende zurückgelassen hätte. Alles in allem ragt der Film aber dennoch klar aus dem Horrordurchschnitt heraus.





Bildrechte

Sämtliche Bildrechte zu den hier gezeigten Szenenbildern aus The Invisible Man“ (deutscher Titel: Der Unsichtbare„) liegen bei Universal Pictures International.

 



Autor: Marius Tahira

Blogger und hauptsächlich Verantwortlicher der Website marius-tahira.de, auf der er sich den Genres Horror, Dystopie und Thriller widmet. Nach einer Verlagsausbildung und seinem Germanistikstudium war er lange Zeit im Lektorat tätig und arbeitet nun im Bereich der Suchmaschinenoptimierung.

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